Taipeh – Bei Radio Taiwan International sind fast alle Lichter aus, als Bihui Chiu, 65, Feierabend macht. Es ist Abend, doch in Taiwans Hauptstadt Taipeh ist es nie dunkel. Neben dem Radiosender leuchtet das 87 Meter hohe „Grand Hotel“ in einem warmen Rot. US-Präsidenten wie Richard Nixon, Ronald Reagan und Bill Clinton haben hier schon übernachtet. „Unsere Beziehung zu den USA ist stark“, sagt Chiu. „Viele Leute betrachten die USA als Taiwans besten Freund. Aber wir sind uns nicht sicher, wie treu dieser Freund ist.“ Sollte China Taiwan angreifen, glaubt die Journalistin, wäre der Inselstaat möglicherweise auf sich alleine gestellt.
Seit 20 Jahren berichtet Chiu für Radio Taiwan International, kurz RTI. Das öffentlich-rechtliche Radio sendet in zehn Sprachen ins Ausland. Chiu, die jahrelang in Bonn studiert hat, moderiert auf Deutsch. In ihren Sendungen spricht sie über chinesische Kampfjets an der Taiwanstraße, eine mögliche Invasion, über die Wehrpflicht in Taiwan, die erst im Dezember von vier Monaten auf ein Jahr verlängert wurde. „Das taiwanische Verteidigungsministerium will auf einen Angriff vorbereitet sein“, sagt Chiu. „Und auch wir hier im Sender diskutieren intensiv darüber, wie wir im Kriegsfall reagieren sollten.“
Chinas Staatspräsident Xi Jinping droht offen mit einer militärischen Eroberung Taiwans. Für viele Experten ist nicht mehr die Frage, ob China zuschlägt, sondern wann.
Mike Minihan, Vier-Sterne-General der US-Luftwaffe, erwartet die Eskalation schon bald. „Ich hoffe ich irre mich, aber mein Gefühl sagt mir, dass wir 2025 kämpfen werden“, schreibt er in einem öffentlich gewordenen Memo an andere US-Kommandanten. China, mutmaßt der General, werde die 2024 in Taiwan und den USA anstehenden Wahlen nutzen.
Das Pentagon stufte die Aussage umgehend zur Einzelmeinung herab – aber auch das Bundeswirtschaftsministerium ist offenbar pessimistisch. Das Nachrichtenportal „The Pioneer“ zitierte im Dezember aus einem internen Strategiepapier des Ministeriums. Demnach nennen die Experten von Minister Robert Habeck 2027 als spätesten Zeitpunkt für einen Angriff Chinas. 2027 wäre das 100. Gründungsjahr der Volksbefreiungsarmee.
Am Himmel ist die Bedrohung sichtbar. Fast täglich kreuzen chinesische Kampfjets den Median in der 180 Kilometer breiten Meerenge zwischen China und Taiwan. Der Median markiert die Meergrenze. „Seit dem Krieg in der Ukraine berichten Medien aus aller Welt über diese Bewegungen in der Taiwanstraße“, sagt Bihui Chiu. „Das sorgt auch bei uns Journalisten für Aufregung.“ Die Bevölkerung bleibe aber ruhig. In Taiwan sei man diese Provokationen gewohnt. „Wir sind damit geboren und aufgewachsen.“
Auf den Straßen wirkt Taiwan nicht wie ein Land in Vorkriegsstimmung. Das Leben von Taipeh pulsiert. Der Stadtteil Zhongshan gehört zu den besonders quirligen Vierteln. Die Nachtclubs sind voll, auf Nachtmärkten wird wild gehandelt. Politik ist hier kein Thema. Zwischen monströsen Einkaufszentren verkaufen Straßenhändler Schweineblutkuchen und Stinky Tofu, ein traditionell chinesischer Snack, dessen Geruch gern mit alten Socken verglichen wird. Abends singen Studenten in Karaoke-Bars, trinken Sake in japanischen Kneipen. Traditionell chinesische Gebäude mit Ziegeldächern, japanische Gärten mit Kirschblütenbäumen, Kaufhäuser im modern-westlichen Stil. In Taipeh treffen Kulturen aufeinander.
Fragt man, wo sich die Taiwaner selbst einordnen, lautet die Antwort oft: Es ist kompliziert. Mehr als 23 Millionen Menschen leben in dem Inselstaat. Gut 95 Prozent sind Han-Chinesen – die auch 92 Prozent der Bevölkerung Chinas stellen. Gleichzeitig sind aus der Kolonialzeit Japans Einflüsse allgegenwärtig, vor allem Ältere haben noch Japanisch in der Schule gelernt. Taiwanische Ureinwohner sind nur rund 2,5 Prozent der Bevölkerung, doch die Bräuche und Traditionen der 16 Volksstämme haben auf der gesamten Insel einen hohen Stellenwert.
In Peking betrachtet man Taiwan als abtrünnige Provinz, obwohl der Inselstaat, der zum Zufluchtsort vieler Chinesen am Ende des chinesischen Bürgerkriegs wurde, noch nie zur kommunistischen Volksrepublik gehört hat. „Ich bin Taiwaner, aber ich fühle mich mit der chinesischen Kultur verbunden“, beschreibt Pingen Adriano Chan seine Gefühle. Der 41-Jährige arbeitet in der IT-Branche und macht seinen Master in Internationale Beziehungen an der National Chengchi University (NCCU).
Die Universität liegt im Südosten Taipehs, im Stadtteil Muzha. Wenn Chan am Fluss Jingmei zur Uni geht, sieht er „Taipei 101“, den einst höchsten Wolkenkratzer der Welt, zu seiner Linken, und Berge, Teefelder und Wanderwege zu seiner Rechten. „Wir haben vieles mit China gemeinsam. Aber Taiwan ist fortschrittlicher, wir haben uns schneller entwickelt“, sagt Chan. „Als Demokratie, aber auch kulturell. In der Literatur und in der Presse haben wir die Freiheit, die Regierung oder die Gesellschaft offen zu kritisieren. Das ist in China nicht erlaubt.“ Politisch komme man mit China überhaupt nicht überein. „Wir halten nichts vom Kommunismus.“
Laut einer Umfrage der Uni wollen nur sieben Prozent der Taiwaner einen Anschluss an China. Gut 30 Prozent streben die Unabhängigkeit an. Am größten ist mit fast 60 Prozent die Zahl derer, die später oder gar nicht am aktuellen Status rütteln wollen. Auch wenn Taiwan zu vielen Ländern wie den USA oder Deutschland gute Beziehungen pflegt, wird es nur von 14 Ländern weltweit anerkannt – große finden sich nicht darunter, die meisten sind kleinere Staaten in Südamerika. „Wir wollen einfach nur leben“, sagt eine Studentin, die am Campus Tee trinkt.
Die Sorgen, dass Peking angreift, halten sich offenbar noch in Grenzen. Laut einer Umfrage des Australia Institutes blicken 41 Prozent der Taiwaner positiv in die Zukunft. Nur 19 Prozent waren pessimistisch. Der Umfrage zufolge glauben mehr Australier, dass China in näherer Zukunft Australien angreift als Taiwaner einen Angriff auf ihre Insel befürchten. Die Umfrage wurde im August 2022 durchgeführt – kurz nach dem von China scharf kritisierten Taiwan-Besuch der US-Demokratin Nancy Pelosi.
„China ist nicht Russland“, sagt Pingen Adriano Chan. „Peking will uns Angst einjagen, aber ich glaube nicht an eine Eskalation.“ China habe genügend eigene Probleme. „Die Pandemie macht China noch immer schwer zu schaffen, und viele Länder auf der Welt zweifeln bereits an der Stabilität. Ein Angriff auf Taiwan würde das Land weiter schwächen.“ China werde nicht angreifen, „aber versuchen, uns wirtschaftlich und diplomatisch von anderen Ländern abzuschneiden. Und das kann gefährlich für uns werden“.
Bihui Chiu ist skeptischer. „Ich denke, viele nehmen die Gefahr nicht ernst, weil wir kulturell und wirtschaftlich sehr eng mit China verwoben sind.“ Vor allem der Mikrochip-Riese TSMC wird oft als Schutzschild Taiwans bezeichnet. Der Halbleiterproduzent versorgt die ganze Welt mit Chips. Auch China. „Aber TSMC weicht bereits auf Fabriken in Arizona aus. Es wird auch über Deutschland als Standort diskutiert. Ich glaube, das ist kein gutes Zeichen für uns“, sagt Chiu.
Sollte es zur Invasion kommen, ist Taiwan auf massive militärische Hilfe angewiesen. Die USA haben diese Hilfe angedeutet, aber nie klar zugesagt. Auch Japan spielt eine zentrale Rolle. Sollten US-Truppen eingreifen, wären sie auf die militärischen Basen dort angewiesen. Japan will diese dann bereitstellen.
Als chinakritische Journalistin wäre auch Bihui Chiu in Gefahr. „Ich werde oft gefragt, ob ich nicht ins Ausland flüchten sollte“, erzählt sie. „Dann müsste ich aber jetzt los – und darauf habe ich ehrlich gesagt gar keine Lust. Wenn wir angegriffen werden, ist es zu spät.“ Chiu und ihr Mann haben lange in Deutschland und in den USA gelebt, Jobangebote gibt es. „Aber wir sind in Taiwan geblieben und ich werde bleiben, auch wenn die Chinesen kommen.“ Bihui Chiu zuckt mit den Schultern. „Dann kommen sie halt.“