München – Im Volksmund klingt der Name relativ harmlos. Und die Zuckerkrankheit, auf Medizinerdeutsch Diabetes genannt, taucht in Deutschland auch nicht in der Statistik der tödlichsten Volkskrankheiten auf. Trotzdem gilt Diabetes als stiller Killer. Denn die Erkrankung greift den gesamten Körper an, kann in verschiedenen Organen gleichzeitig schweren Schaden anrichten – mit dramatischen Folgen wie Herzinfarkt, Herzschwäche, Schlaganfall, Nierenversagen, Amputationen und Erblindung.
Umso alarmierender bewerten Experten die Entwicklung bei der Patientenzahl. Sie hat seit der Jahrtausendwende um etwa ein Drittel zugenommen. Inzwischen leben in Deutschland bereits etwa neun Millionen Menschen mit der Diabetes-Diagnose, jedes Jahr kommen eine halbe Million neue Patienten dazu. Und etwa zwei Millionen Menschen wissen noch gar nichts von ihrem Problem.
Vor diesem Hintergrund warnen Experten immer lauter davor, die Zuckerkrankheit zu unterschätzen. Sie haben allerdings auch eine ermutigende Botschaft parat: Diabetes lässt sich immer besser behandeln, es stehen unter anderem neue Medikamente und ein Bluttest zur Früherkennung zur Verfügung. Man kann sich also wappnen.
Nahezu jeder siebte Bundesbürger leidet an Diabetes mellitus. Die Zuckerkrankheit ist weitverbreitet, aber anders als Krebsleiden, Herzinfarkte oder Schlaganfälle gilt sie nicht als unmittelbar bedrohlich. Deshalb nehmen viele Menschen sie noch immer auf die leichte Schulter – nach dem Motto: „Das hat doch fast jeder, also kann es ja nicht so schlimm sein.“
Ein Irrglaube, der fatale Folgen haben kann. „Diabetes ist mehr als nur ein erhöhter Blutzuckerwert“, warnt Professor Diethelm Tschöpe, Direktor im Herz- und Diabeteszentrum Nordrhein-Westfalen. „Bei dieser Diagnose muss man sich alle Organe anschauen. Die Patienten brauchen ein ganzheitliches und individualisiertes Therapiekonzept.“
In der Praxis gelingt das leider nicht immer – auch deshalb nicht, weil sich viele Fachärzte allein auf ihr Spezialgebiet konzentrieren. „Dabei ist ein Diabetiker von Haus aus ein Hochrisikopatient für verschiedenste Erkrankungen“, erläutert Tschöpe.
Wie gefährlich Diabetes ist, lässt sich sogar in verlorenen Lebensjahren messen. So haben schwedische Wissenschaftler berechnet, dass ein 60-jähriger Diabetiker im Vergleich zu einem gesunden Gleichaltrigen statistisch gesehen sechs Jahre früher stirbt. Hat der Diabetiker zusätzlich noch ein Herzleiden, schließt er sogar zwölf Jahre früher die Augen.
Gerade das Herz entwickelt sich bei vielen Zuckerkranken zur empfindlichen Schwachstelle. Männliche Diabetiker haben ein zwei- bis vierfach erhöhtes Risiko, an einem Herz-Kreislauf-Leiden zu erkranken. Bei Frauen ist es sogar bis zu sechsfach erhöht. Drei von vier Diabetikern sterben in der Konsequenz an einem Herzinfarkt oder Schlaganfall.
Aus einem anderen Blickwinkel betrachtet, wird bei jedem vierten Schlaganfallpatienten Diabetes entdeckt. Zudem gehen Wissenschaftler davon aus, dass die Stoffwechselerkrankung die Entstehung einer Herzschwäche befeuert. „Wer an Herzinsuffizienz leidet, der hat ein besonders hohes Sterberisiko. Es ist ähnlich hoch wie bei Darmkrebs“, erläutert Tschöpe, der auch Vorsitzender der Stiftung „Der herzkranke Diabetiker“ (DHD) ist.
Die große Herausforderung sieht der erfahrene Mediziner darin, die Zuckerkrankheit so früh wie möglich zu erkennen. Doch das gelingt nicht immer. „Erkrankungen wie Herzinfarkt oder Schlaganfall sind häufig die Konsequenz eines über lange Zeit schlecht eingestellten Blutzuckerspiegels. Viele Patienten spüren die Symptome erst dann, wenn bereits Schäden in den Organen entstanden sind. Oft konnte der Diabetes zu diesem Zeitpunkt bereits zehn Jahre lang oder sogar noch länger schleichend wirken“, erklärt Tschöpe.
Diesen Teufelskreis zu unterbrechen, haben die Patienten ein Stück weit selbst in der Hand – jedenfalls dann, wenn sie an Diabetes Typ 2 leiden. Anders als bei Typ 1, einer Autoimmunerkrankung (siehe Artikel unten), lässt sich die häufigere Form, die 95 Prozent aller Diabetesfälle in Deutschland ausmacht, auch über den Lebensstil beeinflussen. „Wichtig sind eine ausgewogene Ernährung, Bewegung, ein gutes Körpergefühl und Gesundheitsbewusstsein“, rät Tschöpe.
Beim Essen sollte man vor allem darauf achten, dass man es mit dem Zucker nicht übertreibt. „Die Dosis macht das Gift“, weiß Tschöpe. „Wer zu viel Zucker zu sich nimmt, versetzt seinen Körper in Dauerstress. Die Bauchspeicheldrüse muss permanent Insulin produzieren.“ Vereinfacht erklärt, besteht so die Gefahr, dass der Zuckerverbrennungsmotor dadurch irgendwann ins Stottern gerät. „Wer noch dazu eine Veranlagung für Diabetes in sich trägt, der erhöht durch eine zuckerlastige Ernährung sein Risiko, dass die Erkrankung tatsächlich ausbricht“, erklärt er.
Abgesehen von einem gesunden Lebensstil können Medikamente helfen, den Diabetes in Schach zu halten, ohne dass sich die Patienten das Hormon Insulin spritzen müssen. „Heute gibt es moderne Präparate, die den Blutzuckerspiegel kontrollieren und andererseits das Herz schützen.“ Zu diesen Mitteln zählen SGLT-2-Hemmer wie Jardiance oder Forxiga sowie sogenannte GLP-1-Rezeptoragonisten wie Victoza, Ozempic oder Trulicity.
Wer regelmäßig zum Arzt geht und Verhaltensfehler im Alltag vermeidet, der kann auch mit Diabetes gut leben – und alt werden. „Wenn man die Erkrankung frühzeitig erkennt und etwas dagegen unternimmt, lässt sich das Sterberisiko heutzutage deutlich verringern“, sagt Professor Diethelm Tschöpe. „Bestenfalls ist es dann nicht mehr höher als bei einem Nicht-Diabetiker.“