Erding – Sie lieben das Leben als Wundertüte? Sie können stundenlang konzentriert telefonieren und dabei ein halbes Dutzend Bildschirme im Blick behalten, während um Sie herum die Welt im Chaos versinkt? Sie halten es aus, dass mal eine Stunde gähnende Leere herrscht, ohne dass Sie träge vom Stuhl fallen? Sie sind empathisch und zugleich in der Lage, straffe Anweisungen zu geben? Dann sind Sie entweder ein Held oder sollten Disponent in einer Integrierten Leitstelle werden. Da ist all das gefragt, in der Regel alles an einem Tag.
Zum Tag des Notrufs 112 an diesem Samstag hat unsere Zeitung die Integrierte Leitstelle Erding, eine von 26 ILS in Bayern, besucht – und einen Einblick in die Schaltzentrale der Lebensrettung genommen. 440 Notrufe gehen hier im Schnitt am Tag ein, bei Sturm oder Unwetter können es aber auch mal über 1000 sein. An diesem Tag werden wir Ohrenzeuge zweier großer Einsatzlagen gleichzeitig, während ein paar Stunden später fast schon lähmende Stille einkehrt – ein Beruf wie eine Wundertüte.
Aber warum überhaupt ein Tag des Notrufs? Wer glaubt, die 112 kenne jedes Kind, der irrt. Einer Studie zufolge weiß jeder fünfte Deutsche nicht, wie man Hilfe holt, wenn plötzlich das Kind nicht mehr atmet, der Partner bewusstlos umfällt und blau anläuft, vor den eigenen Augen ein Unfall passiert oder es beim Nachbarn brennt. Und: Viele wissen nicht, wann man die 112 nicht anruft – etwa wenn der Rücken schon seit zwei Wochen wehtut oder einem am Samstagmorgen auffällt, dass der Blutdrucksenker aufgebraucht ist (siehe rechte Spalte).
Die Leitstellen sind aber auch der Ort, an dem wie unter dem Brennglas viele Probleme, Mängel und Unzulänglichkeiten des maroden Gesundheitssystems sichtbar werden. Die 30 Disponenten in der ILS Erding sollen Leben retten, sie sind aber auch Verwalter und Koordinatoren des Mangels – ein Job, den die Mitarbeiter als anstrengender empfinden, als zehn Feuerwehren und drei Rettungsorganisationen durch einen Großbrand zu lotsen. „Die Kollegen sind nach einer Schicht durchgeschwitzt“, berichtet ILS-Chef Hubert Maier (52).
Michael Dauelsberg ist im Erdinger Blaulichtviertel – zwischen Rotkreuz-Haus und Polizei – einer der 36 Disponenten, zudem bildet er den Leitstellenachwuchs aus. Der 46 Jahre alte vierfache Vater aus Glonn kommt aus dem Rettungsdienst. Er ist einer, der wie so viele seiner Kollegen für seine Mission brennt. Doch es hätte nicht viel gefehlt, und Dauelsberg und seine Kollegen wären vor ein paar Wochen ausgebrannt. „Vor Weihnachten war’s wirklich schlimm“, blickt Dauelsberg zurück.
Auf dem Monitor, der die Auslastung aller Kliniken in der Region anzeigt, dominierte die Farbe Rot. „Tagelang war fast kein Bett frei, es war zum Verzweifeln.“ Es waren nicht unbedingt mehr Patienten als sonst, „aber der Personalausfall war enorm, die Leute konnten einfach nicht mehr“, berichtet Dauelsberg.
Eine Kettenreaktion kam in Gang, erinnert sich der Lehr-Disponent: „Die Kranken- und Rettungswagen waren im Dauereinsatz, Notärzte kaum zu erreichen.“ Denn wenn viele Betten abgemeldet sind, müssen weiter entfernt liegende Häuser angefahren werden. „Teils sind die zum Beispiel in Richtung Großhadern aufgebrochen, um auf halber Strecke zu erfahren, dass die auch nicht mehr aufnahmebereit sind“, sagt Dauelsberg. Im Extremfall mussten die Retter rechts ranfahren und warten, bis die Leitstelle ein anderes Bett aufgetrieben hatte, auch mal in Ingolstadt oder Rosenheim. Nicht nur für den Patienten der Horror, sondern auch eine Zerreißprobe fürs System, wenn stundenlang kein Rettungswagen zur Verfügung steht, ein Pflegeheimbewohner aber dringend ins Krankenhaus muss. Da können auch 500 Meter zu einer Odyssee werden.
„Besonders extrem war es bei den Kindern“, erinnert sich der Familienvater mit Grausen. „Sagen Sie mal einer Familie, die Angst um ihr fieberndes Kind hat, dass es nun von Landshut nach Salzburg geflogen werden muss, weil nur noch dort ein Bett in einer Kinderklinik frei ist.“
Dauelsberg spricht hier über Ereignisse in der Vergangenheit. „Ja, zum Glück ist es besser geworden.“ Aber das Problem ist nicht beseitigt. An dem Tag, an dem unsere Zeitung für eine Schicht vor Ort ist, unterbricht der Gong die Morgenkonferenz, in der über ausgefallene Festplatten, einen Batteriewechsel in der Notstromversorgung sowie über eine trotz Glatteises ruhige Nacht gesprochen wird. Der Gong heißt: Die vier Disponenten, je zwei für Feuerwehr und Rettungsdienst, brauchen Verstärkung, etwa Personal, das neue Anrufe entgegennimmt. Der Grund: Im Keller einer Schule in Freising ist ein Feuer ausgebrochen, hunderte Kinder sind potenziell in Gefahr. Und nur Minuten später geht ein Notruf ein: Unfall mit mehreren Autos auf der Flughafentangente Ost mit acht Verletzten. Es wird hektisch im Funkraum, obwohl keiner herumbrüllt.
Und schon ist er wieder da, der Mangel. Denn ein Brand in einer sensiblen Einrichtung und ein Unfall mit mehren Verletzten erfordern eine Vielzahl an Feuerwehrfahrzeugen und Rettungswagen. Nun ist auf der Bildschirmwand der Disponenten nicht nur die Anzeige der Klinik-Kapazitäten von der Farbe Rot dominiert, sondern auch die der freien Rettungsmittel.
Jetzt müssen die Disponenten Tetris spielen. Müsste ein Heimbewohner aus Erding in die Klinik, kann es sein, dass die ILS ein Fahrzeug aus Langenpreising bestellt und den Patienten im 50 Kilometer entfernten Krankenhaus Mainburg anmeldet.
100 bis 150 Anrufe nimmt jeder Disponent entgegen – pro Zwölf-Stunden-Schicht. Nicht aus jedem wird ein Einsatz. Dauelsberg, der am Nachmittag einen der Disponentenplätze einnimmt, hat gleich zwei Irrläufer hintereinander: Bei einer Jugendlichen klemmt das Handy, das wilde Herumdrücken auf dem Display bringt sie in die Leitstelle („Oh, ’tschuldigung“). Gleich danach meldet sich ein Handy, das sich in der Hosentasche seines Besitzers selbstständig gemacht hat. Dauelsberg ruft zurück, der Mann fällt aus allen Wolken, auch er entschuldigt sich.
Nicht immer ist es so einfach. „Ein Notruf dauert so lange, wie ein Notruf dauert“, lautet eine Leitstellenweisheit. „Viele Anrufer müssen wir erst mal herunterholen. Natürlich sind die meisten aufgeregt, immerhin hat bei ihnen grad das Schicksal eingeschlagen“, sagt Dauelsberg. Ruhig arbeitet er die W-Fragen ab, während er alle Infos in den Bildschirm tippt. Der Einsatz läuft an. „Ganz entscheidend ist, dass der Hilfesuchende nie alleine ist“, erklärt auch Leitstellenchef Maier, „Empathie ist wichtig.“ Dauelsberg sagt: „Es gibt auch Menschen, die aus Einsamkeit anrufen.“ Selbst die dürfe und wolle man nicht brüsk abweisen.
Nach dem turbulenten Morgen bleibt der Nachmittag ruhig. Eine demente Heimbewohnerin muss in die Psychiatrie, in einer Sauna erleidet eine Frau eine Herzattacke, auf Glatteis ist ein Mann ausgerutscht, aufs Gesicht gefallen und blutet.
Zuletzt mussten die Disponenten immer wieder Reanimationen übers Telefon anleiten. „Das ist eine der größten Herausforderungen“, gibt Dauelsberg zu. Zum Glück gebe es dafür Pläne, die mit den Anrufern abgearbeitet werden. „Wir konnten so schon so manches Leben retten“, sagt der Notfallsanitäter.
Die Digitalisierung macht es den Disponenten leichter – aber nicht immer. Ein Funker erinnert sich, dass sich mal eine Apple Watch gemeldet hatte, weil ihr Träger kein Lebenszeichen mehr sendete. Tatsächlich wurde er vor seinem Haus gefunden. Ohne seine Uhr wäre er wahrscheinlich erfroren. Allerdings würden moderne Fahrzeuge auch falsche E-Calls absetzen. Meldet sich der Fahrer dann nicht, muss der Disponent Alarm auslösen.
Was wünschen sich Dauelsberg und seine Kollegen? „Das System ist über Jahre kaputtgespart worden. Es fehlt überall. Wir brauchen mehr Menschen im Gesundheitssystem, die unter würdigen Bedingungen arbeiten können“, sagt Maier. Die drei ILS-Landräte aus Erding, Ebersberg und Freising hätten das erkannt – „sie unterstützen uns sehr“. Entschieden wird jedoch in München und Berlin. Ein Disponent meint: „Das ist doch unwürdig für ein Land wie Deutschland.“