Mein geheimes Leben als Priestertochter

von Redaktion

VON CLAUDIA MÖLLERS

München – „Ab sofort sagst du nicht mehr, wer dein Vater ist, Veronika!“ Dieser Satz ihrer Mutter steht am Anfang des Buches von Veronika Egger – und markiert zugleich das jähe Ende einer glücklichen Kindheit in Irschenberg (Kreis Miesbach). Genauer gesagt im Weiler Auerschmied, einer Ansammlung von wenigen Häusern, die durch die Autobahn A8 München–Rosenheim vom Hauptort Irschenberg abgetrennt ist. Dieser Weiler, das war Veronikas Zuhause. Dort, wo „der Papa“ in ihren ersten Lebensjahren präsent war. Ein Papa zum Liebhaben, bei dem sie im Studierzimmer malt, während er an seiner Predigt arbeitet, der ihr aus dem Märchenbuch vorliest und mit ihr im Wald Schwammerl sucht.

Eine Idylle, der nur einige wenige Jahre beschieden waren. Josef Graml, so hieß ihr 2019 verstorbener Vater, war katholischer Priester. Damals, in den 1970er-Jahren, war er Regionalkaplan im Kreis Miesbach. Eine Kirchenkarriere liegt vor ihm. Dann lernt er Gerti Egger (40) kennen. Ihr Mann, 30 Jahre älter, war an Krebs gestorben. Die trauernde Witwe war allein, der junge Priester sympathisch, ein Freund. Bis er eines Tages seine Hand auf ihre legte. Da wurde aus Freundschaft Liebe. Eine verbotene Liebe, denn als Priester hat Graml Ehelosigkeit gelobt. Die Beziehung war also heimlich, ein Kind schon gar nicht geplant. Gerti Egger war nach den kinderlosen Jahren der Ehe auch davon überzeugt, unfruchtbar zu sein.

Erst als Veronika erwachsen ist, erzählt ihr die Mutter die ganze Geschichte. Wie es war, plötzlich mit 41 Jahren schwanger zu sein. Dass man ihr unterstellte, ein loses Frauenzimmer zu sein, weil sie den Namen des Kindsvaters nicht preisgab. „Es gibt wohl kaum einen Mann, dem man im Rahmen des Dorftratsches das Baby nicht angedichtet hat“, sagt sie ihrer 19-jährigen Tochter bei einem Waldspaziergang. „Und natürlich war auch dein Vater dabei. Man hatte uns ja häufig schon zusammen gesehen.“ Im Ort wird sie „Pfaffenhure“ genannt. Gerti wird ins Ordinariat bestellt, wo man ihr sagt: „Sie sind schuld.“ In Irschenberg spürt sie die hämischen Blicke, zieht sich zurück, igelt sich zu Hause ein. Oder geht in den Wald.

Der Wald – er sollte auch für ihre Tochter zu einer Zuflucht werden. Bis heute liebt es Veronika, Tiere und Pflanzen zu beobachten. Ohne Wald würde sie krank, sagt sie. Die Priestertochter ist heute Gästeführerin im Bayerischen Wald, arbeitet in einer Agentur für Regionalentwicklung.

Mit Allwetterjacke, Jeans, Rucksack und Wanderschuhen marschiert Veronika Egger vom Münchner Hauptbahnhof festen Schrittes zur Redaktion unserer Zeitung. Sie will erzählen von ihrem Leben als Priesterkind. Von ihrer schweren Schulzeit in Miesbach, ihren Ängsten, Erkrankungen und Belastungen – aber auch von ihrer Befreiung.

Es war ein langer Weg für Veronika, bis sie im Einklang mit sich selbst leben konnte. Der Direktor der Grundschule hatte ihre Mutter einbestellt und ihr gesagt, dass die Tochter nicht mehr über ihren Vater reden dürfe. „Das war der Schlüsselmoment. Da ist mir zum ersten Mal bewusst geworden, dass es das nicht geben darf, dass der Papa katholischer Pfarrer ist.“ Das Schlimmste war der Verlust der Unbeschwertheit, erzählt die burschikose Frau. Eigentlich hatte sie als Kind gerne ihr Insider-Wissen über Kirche präsentiert. Und plötzlich das Tabu: „Ich musste meine ganzen Gedanken erst filtern. Ich konnte auch mit den Klassenkameraden nicht mehr unbefangen reden.“ Wenn andere über ihre Eltern reden, schweigt die Priestertochter. Auf ihren Schultern lastet das Heil der heimlichen Familie. Veronika zieht sich zurück, wird zum Mobbingopfer. Selbst im Trachtenverein ist sie unerwünscht – schlimmer geht es auf dem Land kaum.

Veronika fühlt sich schuldig, weil die Mama oft weint, ist bitter enttäuscht, wenn der Papa – der später als Krankenhausseelsorger nach Ebersberg versetzt wurde, damit das „Ärgernis“ nicht offensichtlich wird – wieder einmal ein Treffen absagt. „Ich kann machen, was ich will. Ich mache es immer falsch“, heißt es im Buch.

Die 14-Jährige erkrankt häufig, verliert das Vertrauen in andere Menschen – schließlich fallen dem unglücklichen Kind alle Haare aus. Eine Glatze! Für das Mädchen in der Pubertät ist das eine Katastrophe. Sogar Suizidgedanken kommen dem Teenager. Der Vater ist keine Hilfe, obwohl er doch als Seelsorger überaus beliebt ist: „Er hat sich aus solchen Gesprächen sofort rausgezogen. Seelsorge ging nur bei Menschen, die ihm nicht nahestanden“, sagt Veronika Egger. Ihre Mutter sieht die Qual der Tochter. „Du opferst dein Kind für den ganzen ,heiligen‘ Schein“, wirft sie dem Sepp vor.

Der Haarausfall war der zweite Schlüsselmoment in Veronikas Leben. Wenn das vom Stress kommt, dann musste sie etwas ändern: „Ich will nicht mehr schweigen.“ Die Jugendliche wechselt vom Gymnasium Miesbach auf die Kinderpflegeschule, holt später ihr Abi nach, studiert erst auf Lehramt, dann Tourismusmanagement – und verabschiedet sich von dem Familientraum. In dieser Zeit versucht sie immer wieder, ihren Vater zur Rede zu stellen. Warum bekennt er sich nicht zu ihr? Warum entscheidet er sich nicht für die Familie? Doch Josef Graml ist zu sehr und zu gerne katholischer Priester. Auseinandersetzungen geht er aus dem Weg. Auch Gerti Egger, die lange auf ein gemeinsames Leben gehofft hatte, muss erkennen, dass dieser Traum vergebens war.

Im Alter besinnt sich der Vater, der nie Unterhalt für seine Tochter gezahlt hat. Er kauft ein Haus in Schönberg im Bayerischen Wald. Dort, wo er mit Veronika und ihrer Mutter unbeschwerte Urlaube verbracht hatte. Graml hatte wohl gehofft, hier im Ruhestand mit beiden leben zu können. Doch es war zu spät: Gerti Egger hatte sich längst innerlich gelöst. Offenbar hatte er aber verstanden. Gerti und Veronika ziehen allein ins Haus – heute ist Schönberg ihre Heimat.

Obwohl er sich nie mit seiner Tochter ausgesprochen hat, ist Veronika nachsichtig. Sie respektiert, dass er einen „inneren Abstandhalter“ hatte und kümmert sich um ihn, als im Alter der Kreis seiner Bewunderer kleiner wird und er seinen Kummer im Alkohol ertränkt. Am Ende hat er ihr leidgetan. „Die Mama und ich, wir waren immer beinander, wir sind ein gutes Team. Und er war allein.“ Der bequemste Weg – das Amt zu behalten und im Alter als Familie leben – endet in der Einsamkeit. „Am Ende hat er gar nichts gehabt“, sagt seine Tochter.

Wie es das Schicksal so will: Veronika war die Letzte, die ihn lebend gesehen hat. „Es war, als ob er auf mich gewartet hätte.“ Josef Graml ist am 12. November 2019 allein in seiner Ebersberger Wohnung gestorben. Bei der Trauerfeier erlebt Veronika Egger ihren dritten Schlüsselmoment. Der Geistliche bittet sie als Tochter von Pfarrer Graml in der Kirche nach vorne in die erste Reihe. Am Grab kondolieren die Trauergäste der heimlichen Priestertocher, sprechen ihr Respekt und ihr Beileid aus. „Das war versöhnlich, auch wenn es emotional Hardcore war.“

Veronika Egger ist noch Kirchenmitglied. „Ich sag immer, es ist eine Mischung aus Faulheit und Trotz.“ Immer wieder habe es Phasen gegeben, in denen sie austreten wollte. „Aber dann denke ich mir: Na, bleibst doch dabei. Ihr werdet mich nicht los“, sagt sie – und lächelt.

Das Buch

„Das Priesterkind“ von Veronika Egger mit Andrea Micus, 222 S., Verlag Lübbe, 11 Euro.

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