München/Moskau – Es waren nur wenige Sekunden, aber sie haben das Leben von Marina Owsjannikowa auf den Kopf gestellt. Während einer Live-Sendung im russischen Staatsfernsehen am 14. März des vergangenen Jahres hielt die Fernsehredakteurin ein Plakat in die Kamera mit der Botschaft: „Kein Krieg. Beenden Sie den Krieg. Glauben Sie der Propaganda nicht. Hier werden Sie belogen. Russen gegen den Krieg.“ Nach fünf Sekunden wurde das Programm mit einem Einspieler-Beitrag unterbrochen. Es folgten Festnahme, Strafverfahren, Hausarrest, elektronische Fußfessel und die Flucht nach Europa mit ihrer Tochter. Die Organisation „Reporter ohne Grenzen“ unterstützte sie dabei – und hilft ihr bis heute, sich im französischen Exil zurechtzufinden.
„Ich fühle mich momentan sicher und bin Frankreich sehr dankbar dafür, dass sie mich und mein Kind gerettet haben“, sagt die 44-Jährige im Gespräch mit unserer Zeitung. Auch wenn sich ein Alltag in ihrem neuen Leben im Exil noch nicht eingestellt habe, träume sie davon, dass es bald so weit sein könnte.
Über ihre Protestaktion sagt sie heute: „Ich musste es einfach tun. Nach so vielen Jahren als Journalistin für das Staatsfernsehen war ich müde von der russischen Propaganda.“ 20 Jahre lang habe Putin Russland zerstört und alle unabhängigen Medien zerschlagen. Sie habe lange das Gefühl gehabt, es gebe kein Entkommen. „Durch den Krieg wurde mir jedoch klar, dass es für mich unmöglich ist, weiter zu schweigen.“
Owsjannikowas Vater ist Ukrainer, sie kam dort zur Welt. Schon seit dem ersten Tag des russischen Überfalls habe sie überlegt, ihren Job beim Staatsfernsehen zu kündigen, öffentlich zu demonstrieren. Ihr Sohn, der Angst um sie hatte, habe sie davon aber zunächst abgehalten. Mittlerweile hat er sich von seiner Mutter distanziert – er lebt weiter in Russland.
Dort wird Owsjannikowa nun als Verräterin beschimpft. Doch auch aus der Ukraine erntete sie Kritik. „Man warf mir vor, dass ich so lange Teil des Propagandaapparats war.“ Tatsächlich sei sie lange in die Arbeit gegangen, habe ihre Aufgaben in einer Abteilung für internationale Politik erledigt – „und nach Feierabend bin ich zurück in meine eigene Welt gegangen“. Owsjannikowa sagt, viele russische Journalisten im staatlichen Fernsehen wüssten, dass die Propaganda nicht stimme. Nur ein kleiner Teil sei völlig von Putins Regime überzeugt. In ihrem neuen Buch „Zwischen Gut und Böse: Wie ich mich endlich der Kreml-Propaganda entgegenstellte“ schreibt sie, dass es Kollegen gibt, die morgens Petitionen für Alexej Nawalny und gegen das Regime unterschreiben und abends in den Nachrichten Putins Propaganda verbreiten. Die Angst um die eigene Familien sei groß. „Jetzt herrscht Krieg, und die Journalisten fürchten, dass sie, sollten sie jetzt kündigen, keine andere Arbeit finden. Also schweigen sie.“
Das russische Volk aber lebe in einer Parallelwelt, sagt Owsjannikowa. „Alle Medien stehen unter Kontrolle von Putin und der Regierung. Sie denken, dass sie in einer friedlichen und guten Welt leben und dass um sie herum nur Feinde sind, die Russland bedrohen.“ Trotzdem nehme die Unzufriedenheit in der Bevölkerung immer mehr zu. Aber wer demonstriert, werde festgenommen und bestraft. „Russland ähnelt heute wieder der Zeit unter Josef Stalin.“
Owsjannikowa ist der Meinung, dass die Ukraine den Krieg gewinnen wird. „Ich hoffe, dass es Russland gelingen wird, nach Kriegsende den Weg zu gehen, den Deutschland gegangen ist: Reparationen zahlen, seine Schuld akzeptieren – und dass die Verantwortlichen vor Gericht gestellt werden.“ Aber Frieden, davon ist sie überzeugt, könne es nur ohne Putin geben. „Für eine Demokratie ist der Weg nur offen, wenn Putins Regime beendet und zerstört wird.“ KATHARINA AHNEFELD