Bernried – Anna und Patrick Hemminger, beide 43 Jahre alt, lieben das Abenteuer. Mit ihren Kindern lebten sie schon ohne Strom und Wasser auf einer Hütte. Jetzt haben sie ein Jahr lang nur Lebensmittel aus der Region gegessen. Eine Herausforderung für die drei Kinder, die Nudeln mit Tomatensoße aus Italien lieben. Aus dem Experiment entstand ein Buch. Im Interview erzählen Anna und Patrick Hemminger aus Bernried am Starnberger See, wann sie schwach geworden sind – und wie sich ihr Geschmack verändert hat.
Ihr Buch heißt „Bock auf Regional – Eine Familie. Ein Jahr. Ein Plan.“: Hat das Experiment denn wirklich immer Bock gemacht?
Anna: Meistens. So gar keinen Bock hätte es aber gemacht, wenn Kaffee und Schokolade 365 Tage lang verboten gewesen wären. (Lacht)
Patrick: Da mussten wir realistisch bleiben. Kakao- und Kaffeebohnen werden hier einfach nicht angebaut. Daher waren während des Experiments auch Kaffee für uns und Schokolade für die Kinder weiterhin erlaubt. Beides haben wir aber bei einem Kaffeeröster und einem Chocolatier in der Nähe gekauft.
Was haben Sie am meisten vermisst?
Anna: Olivenöl! In Sachen Öl sind wir nämlich beide totale Nerds. Sonst haben mir persönlich Parmesan und Orangen am meisten gefehlt. Den Kindern wohl zweifellos Spaghetti aus Hartweizengrieß und Tomatensoße aus Italien. Patrick: Ich musste Abstriche bei den Käsesorten machen. Wenn man auf dem Markt fragt, welche Sorte wirklich aus der Region kommt, bleibt kaum Auswahl. Die ganzen guten Franzosen und Italiener muss man liegen lassen.
Und sonstige Exoten?
Patrick: Ananas, Bananen – alles, was per Flugzeug kommt, haben wir gar nicht vermisst. Anna: Die Säure von Zitronen lässt sich kaum ersetzen, was uns aber nicht gestört hat. Scharfe Gewürze haben wir durch Meerrettich oder Senfsaaten und Pfeffer speziell durch Bockshornklee ersetzt.
Was stand am häufigsten auf dem Esstisch?
Patrick: Definitiv Kartoffeln in allen Variationen. Und Eier.
Anna: Irgendwann haben wir uns sogar vier Leih-Hühner zugelegt. Und die kamen bei uns und den Kindern so gut an, dass wir mittlerweile vier eigene im Garten halten.
Wie haben Sie „regional“ überhaupt definiert?
Patrick: Als „so nah wie möglich“. Der Begriff ist aber nicht geschützt, daher gibt es auch keine Definition. Schon vor dem Experiment haben wir uns die Öko-Kiste von Isarland bestellt. Die Produkte stammen aus einem Radius von maximal 180 Kilometern. Nur so ist der Bodensee samt Apfel- und Birnenanbau eingerechnet. Ein kleinerer Radius wäre für uns nicht praktikabel gewesen. Für bestimmte Produkte mussten wir ihn auf Süddeutschland erweitern. Etwa, um Mehl aus Schwaben und Gewürze wie Safran, die in Franken angebaut werden, zu kaufen.
Gab es sonst Spielregeln?
Patrick: Discounter waren tabu. Zusätzlich zur Öko-Kiste haben wir das meiste auf dem Markt eingekauft, waren aber auch mal in Bio- und Hofläden oder in kleineren Supermärkten, die auf Regionalität und Saisonalität setzen und die Herkunft ihrer Produkte genau kennen. Anna: Tiefkühlprodukte und haltbar gemachte Vorräte wollten wir nicht verwenden. Es ging uns ja um den Spaß, herauszufinden, wo wir passende Produkte finden. Für die Kinder haben wir daraus ein Abenteuer gemacht.
Wie sah das aus?
Anna: Wir haben den Metzger in Pöcking und einen mobilen Käser besucht. In Glonn im Kreis Ebersberg haben wir uns in den Herrmannsdorfer Landwerkstätten angeschaut, wie Brezn gemacht werden. Brotbacken haben wir im Urlaub in Österreich gelernt. Patrick: Nicht nur die Kinder haben viel gelernt. Da wir beide Journalisten sind, haben wir aktiv recherchiert – Anna war mit einer Jägerin im Wald unterwegs und mit Fischerinnen auf dem Starnberger See.
Wie haben sich Ihre Essgewohnheiten verändert?
Anna: Wir haben weniger Fleisch und mehr regionalen Fisch gegessen. Zudem haben wir Brot und Semmeln selbst gebacken und viel im Garten angebaut: Beeren, Tomaten, Auberginen, Zucchini, Salat und Bärlauch. Wir haben Marmeladen eingekocht und mit Kräutern Tee gebrüht. Eine Expertin hat uns gezeigt, wie man richtig fermentiert – und dass man seinen Christbaum essen und damit Fichtennadelbutter oder Tannenplätzchen herstellen kann.
Haben Ihre Kinder bei so viel Gemüse mitgespielt?
Anna: Bei Roten Rüben und Kohl sind sie ausgestiegen. Patrick: Deshalb waren die Monate März und April, also die Fastenzeit, auch die härtesten. Alles außer Kartoffeln und Kohl – selbst die Äpfel – sind runzelig. Erst im Mai wächst wieder alles – da haben auch Anna und ich uns gefreut, als im Garten endlich der erste Bärlauch spross.
Haben Sie bei so viel Entbehrung auch gesündigt?
Anna: Nur einmal – und zwar lustigerweise im Sommer. Da war ich mit den Kindern auf dem Markt und wir haben uns nicht regionale Pfirsiche uns gekauft. Die sahen zu gut aus! Patrick: Das war ein genussvolles Scheitern!
Haben Sie durch das Experiment mehr Geld für Lebensmittel ausgegeben?
Anna: Wir sind schon vorher nicht im Discounter, sondern auf Märkten einkaufen gegangen. Regionale Produkte sind nicht unbedingt günstiger – stimmt. Aber wer primär kauft, was gerade Saison hat, spart im Vergleich zu Ware aus dem Ausland oder Gewächshäusern. Patrick: Fleisch ist teuer – also gab es bei uns nur noch sonntags Braten. Dass wir zudem so viel selbst gemacht haben, war für mich das Zünglein an der Waage. Brot ist das beste Beispiel: Ein Kilogramm Mehl kostet 2,50 Euro. Mit ein bisschen Strom wird daraus ein Sauerteigbrot mit eineinhalb Kilogramm. Beim Bio-Bäcker kostet so ein Laib an die zwölf Euro.
Wie sind Sie überhaupt auf die Idee gekommen?
Anna: Im Italien-Urlaub in einem kleinen Lokal in Ligurien. Die Mama stand in der Küche, der Sohn bediente. Eine Speisekarte gab es nicht. Darauf haben wir uns einfach eingelassen. Es gab Wein aus den Reben am Hang nebenan, Wurst und Käse, Nudeln, gebackene Zucchini-Blüten, Kaninchen-Ragout, Tintenfisch – und all das stammte aus maximal 30 Kilometern Entfernung. Der Wahnsinn! Patrick: Ich habe vorgeschlagen, das daheim eine Woche lang auszuprobieren. Bei meiner Frau gibt es aber keine halben Sachen: Wenn, sollte es ein ganzes Jahr lang sein.
Ihr Experiment haben Sie 2021 gemacht – hat es Ihre Denkweise verändert?
Patrick: Das war die Zeit, in der manche Regale im Supermarkt einfach länger leer geblieben sind. Dass wir so abhängig von Lieferketten sind, hat mich zum Nachdenken gebracht. Muss alles, was wir konsumieren, von so weither kommen? Nein, vieles gibt es vor der Haustür. Wir waren überrascht, wie viel. Es gibt ja sogar Reis, Quinoa und Ingwer aus Bayern!
Anna: Inzwischen ernähren wir uns ja nicht mehr mit so strengen Regeln. Aber besonders die Kinder sind jetzt sensibilisiert und wissen, was regional und saisonal bedeutet. Sie erzählen, dass jemand in der Schule Erdbeeren oder Blaubeeren dabeihatte – und das mitten im Februar.
Hat sich auch ihr Geschmack verändert?
Patrick: Wenn ich jetzt ausnahmsweise mal ein Brot beim Bäcker kaufe, kriege ich sofort Kritik zu hören. Das selbst gebackene schmeckt ihnen viel besser. Den Unterschied schmecken sie genau.
Das Backen haben Sie also beibehalten. Was noch?
Anna: Gemüsesuppen mögen wir alle immer noch total gerne. Und wegen unserer Hühner gibt es immer noch viele Eier. Kohl wollten die Kinder ja nie essen, aber unsere selbst gemachten Grünkohl-Chips lieben sie jetzt noch. Patrick: So ein Experiment zwingt einen, genauer hinzuschauen und so haben wir eine echte Produktvielfalt und völlig neue Geschmackswelten kennengelernt. Es gibt in Bayern unheimlich viele Ölmühlen: Hätten wir nicht auf Olivenöl verzichtet, wären wir nie auf Hanf-, Lein- und Soja-Öl gestoßen.
Würden Sie das Experiment wiederholen?
Anna: Ja, aber ich würde mich besser vorbereiten und vorab vielleicht einige Gläser Tomatensoße einkochen und andere Vorräte anlegen. Wir hatten das Experiment ja aus dem Nichts gestartet. Patrick: Ach! 15 Gläser mit ihrer selbst gekochten Soße aus eigenen Tomaten halten sowieso nicht lange. (Lacht)
Und was wird Ihr nächstes Abenteuer?
Anna: Wir haben den Traum, noch mehr zu Selbstversorgern zu werden und mit den Jahreszeiten zu leben. Wir suchen gerade einen Ort, wo wir leben, anbauen und noch mehr Tiere halten können und freuen uns über Tipps. Demnächst wollen wir auch ohne Auto klarkommen – das müssen wir uns hier auf dem Land aber erst mal trauen.
Interview: Cornelia Schramm
Das Buch
„Bock auf Regional – Eine Familie. Ein Jahr. Ein Plan.“ von Anna und Patrick Hemminger ist im Wettersteinverlag erschienen und kostet 14,95 Euro.