Kommt jetzt die Impfung gegen Krebs?

von Redaktion

VON ANDREAS BEEZ

München – In der traditionell humorstarken Stadt Mainz firmiert Biontech unter der Anschrift „An der Goldgrube 12“. Das passt zum Erfolg des Unternehmens, denn mit seinem im Rekordtempo entwickelten Impfstoff hat es nicht nur weltweit Coronaviren in Schach gehalten, sondern nebenbei auch Milliarden verdient. Dabei ist das Vakzin nur ein Nebenprodukt. Eigentlich verfolgt das Erfinder-Ehepaar einen noch ehrgeizigeren Plan, als Corona auszurotten: Mit ihrer mRNA-Impfstoff-Technologie wollen Prof. Ugur Sahin und Prof. Özlem Türeci den Krebs besiegen. Und jetzt – nicht mal zwei Jahre nach der Zulassung des Corona-Impfstoffs Comirnaty – soll die potenzielle Wunderwaffe gegen tödliche Tumoren bereits zum Einsatz kommen. Eine Nachricht, die nicht nur viele Patienten, sondern auch Wissenschaftler elektrisiert.

Dabei wird dem Immunsystem – vereinfacht erklärt – das Know-how eingeimpft, getarnte Krebszellen wieder zu erkennen und zu bekämpfen. Der Hintergrund: Bei jedem Menschen entstehen tagtäglich Vorläufer von Krebszellen – zum Beispiel durch Mutationen, die während der Zellteilung auftreten. Normalerweise greift dann das Immunsystem ein. „Es erkennt die veränderten Zellen als fremd und zerstört sie“, erklärt Prof. Niels Halama vom Deutschen Krebsforschungszentrum. „Doch manchen Krebszellen gelingt es, sich zu tarnen – oder sie bremsen den Angriff des Immunsystems aus. So kann dann eine Tumorerkrankung entstehen. Die Impfung soll dem Immunsystem wieder beibringen, dass die Tumorzellen fremd sind und bekämpft werden müssen.“

Als Schlüssel dazu dient die mRNA – eine Art Botenstoff. Die Abkürzung steht für messenger ribonucleic acid, auf Deutsch: Boten-Ribonukleinsäure. Die heilsbringende Substanz mit dem zungenbrecherischen Namen enthält den Bauplan für ein bestimmtes Eiweiß. Dieses Protein macht die Krebszellen für das Immunsystem sichtbar – und ihnen damit letztlich den Garaus.

Ob die coronaerprobte Gen-Strategie die Krebsmedizin tatsächlich revolutionieren kann, wird in Wissenschaftlerkreisen bereits leidenschaftlich diskutiert. „Die Herangehensweise von Biontech ist glaubhaft und schlüssig“, analysiert die Münchner Krebsspezialistin Prof. Marion Subklewe vom LMU Klinikum im Gespräch mit unserer Zeitung. „Aber es gibt noch sehr viele Fragen zu beantworten.“ Eine entscheidende lautet: Wirken die mRNA-Impfstoffe wirklich bei allen Krebsarten? Zweifel sind noch nicht ausgeräumt. Denn erste vielversprechende Daten beziehen sich vor allem auf Hautkrebs. Das sogenannte maligne Melanom spricht erfahrungsgemäß besonders gut auf Immuntherapien an. Doch die Ergebnisse seien nicht ohne Weiteres auf andere Tumortypen zu übertragen, gibt Subklewe zu bedenken. Deshalb ist die Genforscherin noch nicht davon überzeugt, dass mRNA-Impfstoffe zum neuen Allheilmittel gegen Krebs taugen. Aber „ein interessanter Ansatz“ seien sie allemal.

Das sieht auch ihr Kollege Prof. Jens Werner so, Direktor der Chirurgie im LMU Klinikum und erfahrener Tumor-Operateur. „Die Impfstoffe haben Potenzial – zumindest als gute Ergänzung zu bestehenden Krebstherapien. Und wenn es tatsächlich gelingen sollte, damit Tumoren gänzlich auszuschalten, wäre es genial. Das muss sich jetzt in großen Studien herauskristallisieren. Ich freue mich auf die Ergebnisse.“

Allerdings mischt sich in die Euphorie der Krebsspezialisten auch etwas Ernüchterung. Denn Biontech hat angekündigt, seine Forschung nach England zu verlegen – aus Frust über die Trägheit der deutschen Genehmigungsbehörden. Auf der Insel dagegen rennen die Träger des Bundesverdienstkreuzes offene Türen ein. Dort dürfen sie noch in diesem Jahr eine große wissenschaftliche Studie starten, um ihre neue Krebstherapie zu erproben. Sahin nahm kein Blatt vor den Mund, als er den Deal mit den Briten rechtfertigte: „Wir wollen die Entwicklung von Immuntherapien und Impfstoffen beschleunigen, indem wir Technologien nutzen, an denen wir bereits seit über 20 Jahren forschen.“ Seine Ehefrau Türeci wurde gegenüber dem Nachrichtenmagazin „Spiegel“ noch deutlicher: „Im Umgang mit den deutschen Behörden fällt viel Zeit in die Kategorie Warten auf Antwort.“

Ins selbe Horn stößt auch der Münchner Krebsspezialist Werner: „Wir müssen aufpassen, dass wir uns als Wissenschaftsstandort Deutschland nicht abschaffen“, warnt der Präsident der Deutschen Gesellschaft für Allgemein- und Viszeralchirurgie im Gespräch mit unserer Zeitung. „Die Anträge für Studien dauern einfach zu lange, die Auflagen sind extrem hoch. Andere Länder wie England sind da pragmatischer. Dort sind vielversprechende Projekte leichter umzusetzen.“

Da sei was dran, räumt sogar Bundesforschungsministerin Bettina Stark-Watzinger ein. „Biontech wandert nicht komplett ab, aber das sollte uns in Deutschland und Europa zu denken geben“, sagte die FDP-Politikerin der „Augsburger Allgemeinen“. „Trotz der Zeitenwende müssen wir konsequent an unserer Wettbewerbsfähigkeit arbeiten, Bürokratie abbauen und technologieoffen bleiben.“ Eine Willkommenskultur für Innovationen werde mehr denn je gebraucht.

Dazu gehört die Immuntherapie von Biontech ohne Zweifel. Firmengründer Sahin rechnet damit, dass die neue Therapie gegen Krebs bereits 2030 zugelassen werden könnte. Die Entwicklung sei weit vorangeschritten. „So haben wir 2014 drei bis sechs Monate gebraucht, um einen individualisierten Krebsimpfstoff herzustellen, aktuell sind wir bei vier bis sechs Wochen“, erläuterte Sahin gegenüber dem „Spiegel“. Seine Forschungspartnerin Türeci berichtet in dem Nachrichtenmagazin bereits von konkreten Forschungserfolgen: Bei einigen potenziellen Krebsimpfstoffen gebe es Hinweise auf klinische Aktivität. „Klinische Aktivität heißt, dass das Immunsystem aktiviert wird, sodass bei einem Teil der Patienten der Krebs sichtbar kleiner wird oder verschwindet und Rückfälle seltener auftreten.“

Ähnlich vielversprechende Ergebnisse präsentierte jüngst der US-Pharmakonzern Moderna, der wie Biontech bereits während der Corona-Krise früh ein Vakzin aus der Laborschublade gezaubert hatte. Laut Moderna haben Hautkrebspatienten massiv von einer Kombinationstherapie aus sogenannten Checkpoint-Inhibitoren (einer anderen Variante der Immuntherapie) und mRNA-Impfstoffen profitiert. In der Zusammenschau der Entwicklung hält auch LMU-Krebsexperte Werner die Wahrscheinlichkeit für hoch, dass die Impfung gegen Krebs tatsächlich auf den Markt kommen wird.

Allerdings stellt sich aus Münchner Sicht die Frage, ob die Patienten hierzulande nach dem England-Abgang von Biontech bis zur offiziellen Zulassung der Therapie in der nächsten Dekade warten müssen. LMU-Forscherin Subklewe hofft, dass schon früher etwas vorangeht. „Grundsätzlich laufen Gespräche mit Biontech über Studien auch am Standort München. Wir sind an einer engen Zusammenarbeit interessiert und werden in Zukunft hoffentlich auch Studien anbieten.“

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