Man kann ja über alles reden

von Redaktion

50 JAHRE TALKSHOW Sorgten anfangs Stars aus aller Welt für Gesprächsstoff, kam mit dem Privatfernsehen der Krawall. Heute dominieren Dauergäste die täglichen Polit-Talks.

VON ZORAN GOJIC

München – Harmlos klingt das, als Dietmar Schönherr das Konzept der neuen Sendung erläutert. „Im Grunde eine Rederei“ habe er vor mit der Talkshow „Je später der Abend“. 1973 ist das und damals neu für das deutsche Fernsehen. Typen (erst mal vornehmlich Männer), die sich vor laufender Kamera über Gott und die Welt unterhielten. Im angelsächsischen Raum war das schon lange gang und gäbe. Schönherr, ein österreichischer Schauspieler, der in Deutschland mit der TV-Serie „Raumpatrouille – Die phantastischen Abenteuer des Raumschiffes Orion“ populär geworden war, hatte die Idee für die Sendung aus den USA mitgebracht.

Für Deutschland ist das formlose Unterhalten, das keinem sofort ersichtlichen Zweck dient, ein Novum. Und auch wenn Schönherr das betont lässig anmoderiert, steckt darin subversive Energie. Das Reden hat zu der Zeit durchaus eine politische Dimension. Die 68er wollten das Schweigen der Eltern und Großeltern über die unselige jüngste Vergangenheit brechen, Reden ist damals also potenziell mit Gefahr oder jedenfalls Konflikt verbunden.

Schon die Gästeliste zeigt, dass die Sendung nicht so harmlos ist, wie manch einer denkt. Rolf Hochhuth, der mit seinem Drama „Der Stellvertreter“ das Land krawallig macht, schaut vorbei, Rosa von Praunheim, der erste offen homosexuelle Filmemacher des Landes. Auch Schriftstellerinnen wie Luise Rinser und Astrid Lindgren oder Bundeskanzler Willy Brandt nach seinem Rücktritt. Der Trick der Sendung ist die Balance aus Brisanz und Entspannung. Natürlich will man Drama und exklusive Enthüllungen, aber auch keine Zumutungen. Die Sendung will reizen, aber auch Katharsis bieten, seelische Befreiung. Man kann ja über alles reden.

Das Modell macht Schule. Bald plaudert Joachim Fuchsberger in „Heut’ abend“ mit Weltstars wie Harry Belafonte oder Joan Baez ebenso wie mit so gegensätzlichen regionalen Größen wie Karl Dall oder Falco. Bemerkenswert ist, wie viel Zeit man sich nimmt. 45 Minuten, ohne Werbepause, da kommt man ins Quatschen. Fuchsberger wird viel kritisiert für sein unaufgeregtes Dasein als Gastgeber, aber kaum je hat man Menschen wie Alice Schwarzer oder Wolf Biermann so gelöst erlebt wie bei dem auch als Schauspieler erfolgreichen Schwaben. Perfektioniert wird das später von Alfred Biolek, der alle zum Beichten bringt, ohne dass sie das bemerken.

Als das Privatfernsehen Mitte der 1980er kommt, wird die Talkshow schnell zum festen Programmelement, denn sie kostet fast nichts. Die Bandbreite ist groß. Vom Comedy-Talk mit Karl Dall („Dall-As“) über Bekenntnis- und Versöhnungsshows wie „Arabella“ mit Arabella Kiesbauer bis zur gehobeneren Late-Night-Show mit Harald Schmidt. Ein paar Stühle im Studio und seinerzeit meist unbekannte, also billige Moderatoren, die Menschen befragen. Nachdem alle Menschen wahnsinnig gerne über sich sprechen, ist es kein Problem, ausreichend Gäste aufzutreiben, egal wie bekannt oder unbekannt.

Wobei: Das Privatfernsehen lernt sehr schnell, die unbekannten Gäste zu schätzen – die man leicht vorführen kann. Später schreiben beflissene Jungredakteure ihnen gleich erfundene Geschichten auf den Leib, die irgendwie interessanter sind als das echte Leben. Rapide sinkt das Niveau (wenn man das Wort in diesem Zusammenhang überhaupt nennen möchte) und das Prinzip wird Krawall. Es geht um Exzess, Geschrei, Skandal, Eklat – all die hübschen Wörter, die in eine Boulevard-Überschrift passen.

Während das Privatfernsehen hüfthoch durch Unrat watet, widmet man sich im Öffentlich-Rechtlichen dem politischen Talk. Es ist im Grunde ein Stammtisch. Das, was früher der Salon war, soll in jedermanns Wohnzimmer. Orientierung will man bieten, im besten Fall zur Meinungsbildung im öffentlichen Diskurs beitragen.

Die Flut der beinahe täglichen Polittalks sorgt aber dafür, dass die immer gleichen Politiker, Verbandsvertreter, Lobbyvertreter, unverbesserlichen Selbstdarsteller und selbst ernannten Experten dem geneigten Publikum beständig bestätigen, dass Deutschland am Abgrund steht, alles schlecht ist in der vierterfolgreichsten Volkswirtschaft dieses Planeten, einem funktionierenden Rechtsstaat mit garantierten Bürgerrechten. Irgendwie muss man die Sendezeit ja füllen und es gibt eben nicht jede Woche das große gesellschaftspolitische Thema, das alle umtreibt. So wird auch der plötzliche Kältetod aufgrund ausbleibender russischer Gaslieferungen zum Thema – was man im Ausland mit Lächeln quittiert: Die Deutschen und ihre Angst, da sind sie wieder.

An den Talkshows halten die Sender fest – auch wenn keiner mehr weiß, ob er etwas bei Maybrit Illner, Anne Will oder der morgendlichen U-Bahn-Fahrt vom Stehnachbarn gehört hat. Das zigfach vorhergesagte Ende des Fernsehens und damit der Talkshows ist ausgeblieben. Stattdessen erzählen Nachrichtenportale im Zukunftsmedium Internet ausgiebigst die Talkshows des linearen Fernsehens nach. „Die Rederei“ wie Dietmar Schönherr das so hübsch genannt hat, die wird uns erhalten bleiben.

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