München – Der Twitter-Kanal von Thomas Tuchel offenbart ein gewisses Missverhältnis. Ihm, dem Fußballtrainer, folgen fast 380 000 Menschen. Er selbst hat nur einen Account abonniert: den des FC Chelsea in London. Es war sein Club bis September 2022, dann wurde er entlassen.
Tuchel meldete sich 2017 beim Kurznachrichtendienst Twitter an, versprach „Infos aus erster Hand“. Doch er lieferte wenig: Trennung von Borussia Dortmund, Einstieg bei Paris Saint-Germain, dort dann auch das Ende, Wechsel zum FC Chelsea, Ende bei Chelsea. Er betrauerte es in drei Beiträgen, das ist üppig, wenn man bedenkt, dass er in sechs Jahren insgesamt nur 16 geschrieben hat: „Das ist der Club, bei dem ich mich zu Hause gefühlt habe, beruflich und persönlich.“ Es scheint ihn wirklich angerührt zu haben. Ansonsten gibt’s: einen netten Gruß an Jupp Heynckes, Selfies mit Noel Gallagher und Roger Federer. In seinem Profil verweist er auf eine eigene Website. Doch auf thomastuchel.de gibt es keine Inhalte, er hat sich lediglich die Domain gesichert.
Thomas Tuchel, der Mann, der als Nachfolger von Julian Nagelsmann den FC Bayern übernimmt, ist deutscher Pokalsieger mit Borussia Dortmund (2017) und hat mit Chelsea 2021 die Champions League gewonnen. Man erkennt ihn sofort: eine hagere, große Gestalt, blasser Teint, dünnes Haar, über das er oft eine Baseball-Cap stülpt. Wenn er spricht, kann er die schwäbische Herkunft – geboren wurde er 1973 in Krumbach – nicht verbergen.
Doch was weiß man über diesen eigentlich sehr berühmten Typen wirklich? Wenig, denn er macht sich rar. Er absolviert Pflichtauftritte vor Fernsehkameras und auf Pressekonferenzen, doch er meidet die Konfrontation in großen Interviews. In den vergangenen Jahren gab er nur eines: der Stilbeilage der „Zeit“. Thema: Design, Mode. Tuchel drückt sich über die Accessoires seines Lebens aus. Er fuhr mal ein Saab Cabriolet, ein Auto, das nur wenige haben. Er wollte sagen: Ich bin anders.
Ihn umwabern viele Geschichten, über Dritte muss man sich der Person Thomas Tuchel nähern. Die Geschichten besagen: Er ist speziell in seinem Umgang. Doch es könnte sich lohnen, mit Tuchel ein Stück gemeinsamen Weg zu gehen. Denn der Weg wird zum Erfolg führen. Er gehört zur Kategorie „Unterschiedstrainer“, „Bessermacher“. Und was den Fußball betrifft, ist er immer ehrlich.
In den Geschichten, die über ihn im Umlauf sind, ist Thomas Tuchel ein Kontrollfreak, der stilles Wasser trinkt, den Spielern Kohlenhydrate verbietet, ihre Lieblingslokale ausfindig macht und die Inhaber und Kellner bittet, ihn zu informieren, wenn die Stars zu lange unterwegs sind.
In Paris ist er 2018 so eingefallen. Man glaubte, das könne nicht gut gehen, wenn er Neymar, den teuersten Fußballer der Welt, 222 Millionen Euro Ablöse, und Kylian Mbappé, den jungen Weltmeister, an die Leine nähme. Die Realität war dann, dass Tuchel die Mannschaft auf seiner Seite hatte, sie mit ihm erfolgreicher war als mit jedem anderen Trainer davor und danach. 2020 verlor er das Champions-League-Finale gegen die Bayern mit 0:1, Tuchel coachte teils sitzend mit einem Vakuum-Schuh am Fuß, nachdem er sich die Achillessehne gerissen hatte. Gehen musste er beim Scheichclub PSG, weil er sich mit dem Sportdirektor zerstritten hatte.
Trennungen sind immer mit einem Knall verbunden bei ihm: Beim FSV Mainz 05, seiner ersten Bundesliga-Station, schmiss er 2014 trotz laufenden Vertrags inmitten einer guten Zeit hin – und nahm ein Sabbatjahr. In Dortmund überwarf er sich mit Aki Watzke, dem starken Mann im Club. Am 11. April 2017 war die Mannschaft im Bus auf dem Weg zum Champions-League-Spiel gegen Monaco Ziel eines Anschlags geworden. „In der Folge ist zwischen dem Trainer und mir einiges zu Bruch gegangen“, sagt Watzke rückblickend in einer demnächst erscheinenden Sky-Dokumentation („Der Anschlag“). Tuchel empörte sich damals, dass sein Team schon am nächsten Tag wieder habe antreten müssen („Wir hätten uns mehr Zeit gewünscht und haben sie nicht bekommen“) – intern aber soll er anders gesprochen haben; weniger empathisch. Beim FC Chelsea, der nach den Sanktionen gegen seinen Besitzer, den russischen Oligarchen Roman Abramowitsch, verkauft werden musste, kam Tuchel mit dem neuen Eigner, dem amerikanischen Geschäftsmann Todd Boehly, nicht klar. In Thomas Tuchels Beziehungen gibt es immer wieder Kipppunkte.
Paris, Chelsea, nun die Bayern – der Fußball hat ihn jedenfalls aus der schwäbischen Provinz in die große Welt hinauskatapultiert. Als Spieler kam er nicht weiter als in die 2. Bundesliga, wo er für die Stuttgarter Kickers achtmal als Außenverteidiger auflief. Er hatte Trainer alter Schule, knorrige Autoritäre wie Rolf Schafstall, der fragte: „Tuchel, was soll ich mit Ihnen anfangen?“ Verstanden fühlte er sich nur vom Studienrat-Typen Ralf Rangnick in Ulm. Mit 24 hörte er wegen eines Knorpelschadens auf, er kellnerte in einer Bar in Ulm, fuhr einen Audi mit 600 000 Kilometer auf dem Tacho, was anderes war nicht drin.
Als Jugendtrainer in Stuttgart (Assistent bei der U15) fand er in den Fußball zurück, beim FC Augsburg wurde er 2005, als der heutige Bundesligist noch in der Regionalliga kickte, Leiter des Nachwuchszentrums. Er trainierte die zweite Mannschaft, in der spielte ein gewisser Julian Nagelsmann. Thomas Tuchel erkannte dessen besondere Sichtweise des Fußballs, betraute ihn mit Scouting- und Analyseaufgaben und erfand somit auch den Trainer Nagelsmann, den er nun ablöst.
Wenn er jemanden entdeckte, der der Sache des Fußballs dienlich sein könnte, förderte er ihn. Als Mainzer Jugendtrainer lernte er bei einem internationalen Turnier den Schweizer Martin Schmidt kennen, fand es beeindruckend, wie dessen Mannschaft spielte – und empfahl dem FSV Mainz 05 umgehend Schmidts Verpflichtung. Als Tuchel 2009 die Mainzer Bundesligatruppe übernahm – seine erste Profi-Station – bot er die Assistentenstelle einem Bekannten aus dem Nachwuchsfußball an: Christian Streich, damals noch ein unbekannter Coach bei der Jugend des SC Freiburg.
Mit Mainz startete Tuchel durch. In einem seiner ersten Spiele gewann er bei den Bayern. Er überraschte damals nicht nur mit seinem Match-, sondern auch dem Reiseplan. Die Mainzer flogen erst am Spieltag nach München – absolut ungewöhnlich. Immer wieder setzte Tuchel Reize: im Training, in der Aufstellung. Keine Woche sollte wie die andere sein, keine Routine die Spieler gemächlich machen.
Und so stieg Tuchel auf im europäischen Fußball, wurde für die großen Clubs interessant. Er könnte jetzt auch zu Tottenham Hotspur gehen und den Italiener Antonio Conte ablösen, mit dem er sich im vorigen August wegen eines Handschlags fast eine Schlägerei geliefert hätte. Doch das ist nicht so interessant wie mit dem FC Bayern in der Champions League auf Manchester City zu treffen mit Pep Guardiola. Er und Pep, zwei Fußball-Verrückte, die sich mal in München in der Bar von Charles Schumann trafen und mit Salz- und Pfefferstreuer taktische Varianten durchspielten.
Die beiden waren auch Gegner im Champions-League-Finale 2021. Tuchel gewann.