München – Seit Mai 2021 ist Christian Hartel (52) Vorstandvorsitzender der Wacker Chemie AG. Der Konzern mit Hauptsitz in München beschäftigt weltweit rund 16 000 Mitarbeiter und ist bei seinen chemischen Prozessen auf bezahlbare Energie angewiesen. Ein Gespräch über das Krisenjahr, die Chancen für den Standort Bayern und die Frage, wie grün ein Chemiekonzern arbeiten kann.
Herr Hartel, der Winter ist vorbei, wir haben genug Gas, die Preise sinken. War die ganze Angst umsonst?
Das denke ich nicht. Wir hatten durch den Angriffskrieg in der Ukraine eine völlig neue Situation, niemand wusste, wie sich die Versorgungssituation entwickeln würde. Deshalb war es aus meiner Sicht vollkommen richtig, die Gasspeicher so schnell zu füllen, um Deutschland bestmöglich abzusichern.
Wir war das Jahr 2022 für Sie als einen der größten Energieverbraucher Deutschlands?
Wir verbrauchen 0,8 Prozent des deutschen Stroms und 0,5 Prozent des Gases und gehören damit zu den zehn größten Stromeinkäufern des Landes. Energie ist für uns als Polysiliziumhersteller eine Art Rohstoff. Die hohen Preise haben wir natürlich deutlich gespürt. Wir kaufen unsere Energie aber strategisch über verschiedene Zeiträume ein – deshalb haben sich die Preisspitzen 2022 für uns nicht so stark ausgewirkt.
Zu Hochzeiten kostete der Strom einen Euro die Kilowattstunde, jetzt sind es zehn Cent. Wird es dieses Jahr also leichter?
Durch unsere Einkaufsstrategie werden die Energiekosten in etwa auf dem Niveau des Vorjahres liegen. Um uns abzusichern, haben wir 80 Prozent unseres Bedarfs für dieses Jahr schon eingekauft. Aber: Verglichen mit dem internationalen Niveau, sind unsere Energiepreise immer noch viel zu hoch. Für unsere Wettbewerbsfähigkeit ist das eine große Bürde.
In drei Wochen werden die letzten AKW abgeschaltet, Kritiker warnen, dass das die Strompreise eher steigen lässt. Ist der Ausstieg gerade eine gute Idee?
In Zeiten, in denen ein Gut knapp ist, hilft es natürlich, wenn mehr Kilowattstunden erzeugt werden. Ein temporärer Weiterbetrieb hätte also sicher einen positiven Einfluss auf das Preisniveau. In den Bau neuer Atomkraftwerke würde ich mein Geld aber nicht stecken: Der erzeugte Strom ist einfach viel zu teuer. Wind- und Solarenergie sind die mit Abstand günstigsten Erzeugungsformen, deshalb müssen wir genau die schnell und massiv ausbauen.
Ein Projekt, das sich die Ampel-Politik auf die Fahnen geschrieben hat. Sind Sie zufrieden mit der Arbeit der Regierung?
Der Kriegsausbruch war ein Katalysator für die Energiepolitik. Mit den Beschleunigungsgesetzen für den Ausbau der Erneuerbaren und der Netzinfrastruktur sind wir definitiv auf dem richtigen Weg. Für mich als Unternehmer muss sich aber Politik jeglicher Couleur daran messen lassen, ob genug Energie zu bezahlbaren Preisen verfügbar ist. Dafür muss noch einiges passieren.
Zum Beispiel Fracking in Deutschland?
Je mehr verschiedene Energieformen wir haben, desto besser ist das für die Versorgung und die Preise.
Schon vor der Krise war Strom teurer, als die Chemieindustrie sich das wünscht. Was spricht für den Standort Deutschland?
Unser Standort Burghausen wurde gegründet, weil dort, durch Chiemsee und Alz, große Mengen günstiger Energie zur Verfügung standen. Daraus wollte Alexander Wacker vor über 100 Jahren etwas machen. Er hat den Alzkanal samt Wasserkraftwerk in Burghausen gebaut. Diese Idee ist heute so modern wie nie – wir nutzen das Kraftwerk immer noch. Außerdem haben wir dort über Jahre einen ausgefeilten Produktionsverbund aufgebaut: Das heißt: Wir nutzen Nebenprodukte aus dem einen Prozess als Ausgangsmaterial für einen anderen.
Sie knüpfen an Ihren Gründungsmythos an und bauen in Burghausen ganze 40 Windräder.
Wir bauen die Windräder nicht selbst, aber wir unterstützen das Projekt, indem wir einen Stromabnahmevertrag über zehn oder 20 Jahre abschließen wollen. Warum machen wir das? Um unseren CO2-Ausstoß wie geplant bis 2030 zu halbieren, müssen wir die Prozesse, bei denen Kohlenstoff verbrannt wird, elektrifizieren. Schon heute sind 70 Prozent unserer Prozesse elektrisch – in der Chemiebranche ein absoluter Spitzenwert.
Aktuell ist das aber vor allem Kohlestrom.
Genau. Deshalb brauchen wir viel mehr grünen Strom. Das Projekt in den Staatsforsten wird der größte Windpark in Bayern sein.
In Norddeutschland stehen Tausende Windräder. Sind Sie wütend auf die Staatsregierung, dass der Bau der Süd-Link-Trasse so lange verzögert wurde?
Wütend ist der falsche Begriff. Richtig ist aber: Günstige Windkraft wird im Norden rasant ausgebaut und der Strom muss in die Industriezentren im Süden gebracht werden. Das geht ohne die Trassen nicht – und wir brauchen sie dringend.
Schon heute verbraucht Wacker in Burghausen mehr Strom als das gesamte Stadtgebiet Münchens. Wo wird der ganze grüne Strom grundlastfähig herkommen?
Allein der neue Windpark kann zehn Prozent des Bedarfs im gesamten Chemie-Dreieck decken. Aber wir müssen in der Transformation weggehen von zentralen Strukturen, hin zu dezentraler Erzeugung und intelligenten Netzen. Deshalb brauchen wir ja die Leitungen, damit wir Strom von überall her beziehen können: Irgendwo in Europa weht immer Wind. Wir werden aber auch deutlich mehr über Speicher nachdenken müssen.
Batterien, Pumpspeicher, Wasserstoff – da sind viele Fragen offen.
Der Schlüssel ist Dezentralität: Nehmen Sie ein E-Auto: Mit dessen Batteriespeicher können Sie einen Haushalt eine Woche lang versorgen – und das Auto steht 23 Stunden am Tag, kann also im Netz als Puffer dienen. Davon haben wir bald Millionen auf der Straße. Und wir müssen auch über Anreize sprechen, also flexible Tarife: Dann ist der Strom eben abends fünfmal so teuer wie mittags, wenn die Sonne scheint. Dadurch tanken die Menschen günstig und stabilisieren das Netz.
Muss die Industrie nicht auch umdenken?
Unsere Anlagen sind wegen der alten konventionellen Kraftwerke darauf ausgelegt, rund um die Uhr zu laufen. Gerade beim Polysilizium geht das rein technisch auch nicht anders. Wir überlegen aber für neue Anlagen, ob eine flexible Produktion machbar sein könnte.
Wasserstoff ist ein Megathema, die Nutzung aber weitgehend unklar. Wie sieht es bei Wacker aus?
Wir nutzen bei der Polysilizium-Herstellung bislang grauen Wasserstoff aus Erdgas. Perspektivisch wollen wir grünen Wasserstoff aus der Elektrolyse, also aus grünem Strom, nutzen.
Noch wäre das zu teuer. Welche Stromkosten erwarten Sie in den kommenden Jahren?
Wir sprechen uns seit Jahren für einen Industriestrompreis von vier Cent pro Kilowattstunde aus. Wenn wir uns die Gestehungskosten der Erneuerbaren anschauen, ist das möglich. Wird der Solarstrom in Spanien produziert, sprechen wir sogar von zwei Cent. Dann würde sich auch Wasserstoff ganz anders rechnen. Dafür müssen wir aber zuerst die Erneuerbaren ausbauen.
Ihr Auftrag an die Politik?
Ja. Wobei ich mir aber weniger Sorgen um die 30er-Jahre mache: Wenn der Ausbau der Erneuerbaren klappt, erreichen wir das gewünschte Preisniveau dann ganz automatisch. Die Herausforderung sind aber die nächsten Jahre, in denen die Preise noch viel zu hoch sein werden. Deshalb unsere klare Forderung an die Politik: Wenn wir in Deutschland in der Chemie und vielen anderen Industrien weltweit weiter führend sein wollen, brauchen wir günstige Strompreise – und zwar jetzt, sonst schaffen wir auch die Transformation nicht.
In China kostet Strom teilweise nur zwei Cent, weshalb Branchenprimus BASF Kapazitäten dorthin verlagert. Müssen wir das auch bei Wacker befürchten?
Der energieintensivste Prozess bei Wacker ist die Polysiliziumproduktion. Das stellen wir aktuell in Burghausen, im sächsischen Nünchritz und in Tennessee in den USA her. Das sind hochkomplexe Verbundanlagen, die auch die richtige Infrastruktur brauchen. Es macht für uns keinen Sinn, diese Standorte zu verlagern. Wenn wir aber neue Kapazitäten aufbauen, wird sich die Frage stellen, wo die Energiekosten günstig und planbar sind.
In anderen Feldern sind sie stark in China engagiert – wie gehen Sie mit den politischen Risiken um?
Wir selbst sind seit 30 Jahren vor Ort und haben 1600 Mitarbeiter. Unsere Risikostrategie – wenn Sie so wollen – ist: wir produzieren in China für China.
Warum ist das so wichtig?
China ist der mit Abstand größte Chemie-Markt der Welt. Für ein Chemieunternehmen von Weltbedeutung ist es wichtig, in diesem Markt vertreten zu sein.
China dominiert den Photovoltaikmarkt mit großem Abstand. Sie sind ein wichtiger Zulieferer. Sollten wir versuchen, die Solarindustrie wieder in Deutschland anzusiedeln?
Wir hatten in den 2000ern bereits eine Solarindustrie, die auch stark gefördert wurde. Man muss aber sagen: Wir in Deutschland haben hier den Fokus verloren, während andere Länder die Chancen erkannt haben. Die Erneuerbaren sind die zentrale Antwort auf den Klimawandel, deshalb wäre es richtig, wieder eine wettbewerbsfähige Solarindustrie in Deutschland und Europa anzusiedeln. Ohne staatliche Förderung wird das aber nicht gehen.
Interview: Georg Anastasiadis und Matthias Schneider