So plagt uns der Bürokratie-Wahnsinn

von Redaktion

Sechs Menschen aus sechs Branchen sprechen über ihre Erfahrungen – und machen Verbesserungsvorschläge

München – 1773 Gesetze mit 50 738 Einzelnormen. Dazu kommen 2795 Rechtsverordnungen mit weiteren 42 590 Einzelnormen (Stand 2. Februar) – und da sind die Landesgesetze noch gar nicht miteingerechnet. Es grüßt das Bürokratieland Deutschland! Die ausufernde Verwaltung wird in vielen Bereichen zunehmend zum Problem. Wir haben mit sechs Menschen aus ganz unterschiedlichen Branchen darüber gesprochen, wo ihnen die Bürokratie im Alltag das Leben schwer macht – und wie man Abhilfe schaffen könnte.

Den Aufwind spürt Erich Wust durchaus. Fördern statt verhindern, dieses Credo gilt beim Windkraftausbau mittlerweile auch im Freistaat. „Durch die strenge Abstandsregel 10H hatte unsere Branche früher massiven Gegenwind in Bayern“, sagt Wust, dessen Firma Wust Wind & Sonne mit Sitz in Markt Erlbach bei Nürnberg schon rund 120 Windräder als Bürgerbeteiligung im Freistaat errichtet hat. „Jetzt gibt es plötzlich Rückenwind, auch durch Wirtschaftsminister Robert Habeck.“ Doch an einer Sache hat das bisher wenig geändert: den komplizierten Genehmigungsprozessen.

Pro Windprojekt verbringt ein Mitarbeiter der Firma Wust rund 1800 Stunden mit Bürokratie und Gesprächen – 600 Stunden für den Netzanschluss, 600 Stunden mit Öffentlichkeitsarbeit bei Bürgern, Gemeinderäten und Grundstücksbesitzern sowie weitere 600 Stunden mit der reinen Planung, also Anträgen oder Gutachten. Rund 30 Stellen sind dabei involviert, vom Bauamt über die Flugsicherung bis zum Landesamt für Denkmalpflege. Die Anträge und Gutachten füllen einen dicken Leitzordner.

Schön sei, dass mittlerweile selbst in Bayern weitgehend Einigkeit herrsche, dass man Windenergie brauche. „Wenn alles gut vorbereitet ist und die Stellen vor Ort nicht blockieren, kann ein Genehmigungsverfahren in sechs bis acht Monaten durchgehen.“ Trotzdem habe jedes Projekt seine eigenen Fallstricke und könne im Extremfall Jahre dauern. Gerade beim Naturschutz seien die Regeln „wachsweich“, so Wust, was oft für endlose Diskussionen sorge. „Naturschutz ist wichtig“, räumt er ein, „aber hier wünsche ich mir mehr Augenmaß bei Entscheidungen.“

Seit 22 Jahren führt Michael Haslbeck mit seiner Frau Angelika eine Hausarztpraxis in Kranzberg im Kreis Freising. Früher, erinnert sich der Mediziner, ist er „am Wochenende mal zwei bis drei Stunden in der Praxis verschwunden“, um sich um das zu kümmern, wofür von Montag bis Freitag keine Zeit war. Doch die Nachfragen von Versicherungen oder Krankenkassen hätten deutlich zugenommen. „Heute brauche ich deshalb einen halben Tag dafür.“ Besonders bei der Dokumentation von Behandlungen seien die Anforderungen stark gestiegen. Und das, obwohl ein großer Teil der Daten nie gebraucht werde, sagt Haslbeck. Erst kürzlich hat das Praxis-Team das Archiv aufgeräumt. „Da haben wir ausgedruckte Digitalbilder von Füßen und offenen Beinen gefunden, die wir 2005 und 2006 für Krankenkassen anfertigen mussten – aber bis heute hat nie mehr jemand danach gefragt.“ Was Haslbeck besonders ärgert: „Die Dokumentation dauert in der Sprechstunde manchmal genau so lang wie die eigentliche Zeit mit dem Patienten.“ Der Arzt wünscht sich deshalb „mehr Vertrauen“ in ihn und seine Berufskolleginnen und -kollegen.

Die Metzgerei Heimann in Grafing im Kreis Ebersberg ist noch ein waschechter Familienbetrieb – und eine der immer weniger werdenden Metzgereien, in denen noch selbst geschlachtet wird. „Meine Schwester, mein Papa und meine Mama – alle packen mit an“, sagt Juniorchef Peter Heimann. Für den 27-Jährigen ist es einer der schönsten Berufe, Metzger zu sein. Mit einem Haken: „Während man früher einfach seinem Handwerk nachgegangen ist, sitzt man heute den halben Tag im Büro.“

Die Tierdatenbank muss gepflegt werden, die lückenlose Dokumentation der Lieferketten muss stimmen, die Kerntemperatur jeder Brühwurst wird akribisch gemessen und notiert. „Jede Regel ergibt im Einzelnen ihren Sinn“, gibt Heimann zu. „Aber trotzdem kommt jedes Jahr mindestens eine neue Auflage dazu.“ Und das macht es neben dem Personalmangel im Verkauf so schwierig für einen Betrieb wie den der Heimanns mit ihren zwei Filialen. Manche Dinge sind für den Juniorchef schwer nachvollziehbar. Dass für jede Leberkässemmel jetzt ein Kassenbon im Müll landet zum Beispiel. Oder dass es so kompliziert ist, die Schlachtung für andere Betriebe mit zu übernehmen. „Da könnte man denjenigen, die das noch auf sich nehmen, schon etwas entgegenkommen.“ Schließlich sei eine regionale Schlachtung nicht nur ein Qualitätsmerkmal, sondern auch im Sinne des Tierwohls.

Es gibt Regeln, da kann selbst ein alter Hase wie Michael Wüst nur mit dem Kopf schütteln. Seit 36 Jahren engagiert sich der 51-Jährige ehrenamtlich beim THW, seit 2001 leitet er den Freisinger Ortsverband. Einmal im Jahr bekommt Wüst im Gerätehaus Besuch. Von jemandem, der überprüft, ob die Regale auch wirklich sicher stehen. „Man traut uns beim THW zu, Menschenleben zu retten. Aber ein Regal sicher aufzustellen, da muss noch jemand drüberschauen“, sagt Wüst und muss schon fast lachen.

Um die zehn bis 15 Stunden opfert Wüst pro Woche neben seinem Beruf bei einer Softwarefirma für sein Ehrenamt beim THW. Und ungefähr acht bis 13 Stunden davon gehen mit Bürokram drauf, sagt er. Material beschaffen, Lehrgänge organisieren, Einsatzbereitschaft gewährleisten. Die Lust am Ehrenamt, das stellt Wüst klar, lässt er sich davon nicht nehmen. „Aber der Verwaltungsaufwand wird immer mehr – und das nervt. Dafür bin ich nicht zum THW gegangen. Sondern um Menschen zu helfen.“

Ja, auch eine Rathauschefin hat beinahe täglich mit der Bürokratie zu kämpfen. „Man ärgert sich laufend“, sagt Barbara Bogner, seit 2008 Bürgermeisterin in Sauerlach im Kreis München. Wenn man mal wieder ewig auf ein Gutachten wartet. Oder bis ein Beschluss durch sämtliche Gremien gewandert ist. Aber ein Punkt nervt die 62-Jährige besonders: die Flut an mitunter sinnlosen E-Mails jeden Tag. Bis zu 100 Mails trudeln täglich bei ihr ein. „Und ich behaupte: Die Hälfte davon bräuchte es nicht.“ 15 bis 20 Stunden in der Woche verbringe sie nur damit, ihre digitale Post zu sichten, zu beantworten oder weiterzuleiten. „Das bremst einen einfach aus.“ Und die eigentliche Arbeit, die sich derweil auf dem Schreibtisch stapelt, bleibt liegen.

Wo sich andere gerade zum Feierabend auf die Couch fallen lassen, geht für Landwirt Gerhard Langreiter die lästigste aller Arbeiten erst los. Wenn seine Schweine im Stall versorgt und die Arbeit auf dem Acker getan ist, wartet das Büro. Seit 16 Jahren führt Langreiter, 41 Jahre alt, einen Ferkelerzeugerbetrieb in Oberneukirchen im Kreis Mühldorf. Er liebt seinen Beruf. Aber es sei „krass“ wie viel Zeit Dokumentation, Formulare und Anträge verschlingen. Obwohl viel nebenbei erledigt wird: „Einen halben bis ganzen Tag in der Woche sitze ich trotzdem noch im Büro – dann oft abends oder nachts“.

Groß wird der Frust, wenn Zahlen wie etwa der aktuelle Tierbestand im Stall doppelt und dreifach an diverse Stellen und Ämter gemeldet werden müssen. „Einer will die Zahl der Ferkel von acht bis 25 Kilogramm, der nächste von acht bis 30 Kilo und der übernächste von 20 bis 50 Kilo, mal mit und mal ohne tragende Jungsauen“, zählt Langreiter auf. Alles Zeit, die am Ende für den Hof, die Tiere und für die Familie fehlt.

Zwar gebe es für Pflanzenschutz- oder Dünge-Dokumentation mittlerweile ausgefeilte digitale Systeme. „Aber die kann sich in der Regel nur ein großer Lohnunternehmer leisten“, sagt Langreiter. Sein großer Wunsch: Dass bei Betriebskontrollen nicht auf jede Kommastelle größtmöglichen Wert gelegt wird, sondern darauf, ob das Gesamtbild passt. Und ob es den Tieren wirklich gut geht.

Texte: Dominik Göttler, Sebastian Horsch, Andreas Höß

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