Enghausen – Leises Hühnergegacker ist zu hören, das Vieh schnaubt im Stall, an der Scheunenwand ist das Brennholz akkurat aufgeschichtet. Nur wenige Schritte vom kleinen Hof der Familie Hösl entfernt liegt die weiße, spätgotische Kirche zwischen saftigen Wiesen. Die Tür zur Kirche „Heilig Kreuzauffindung“ ist doppelt gesichert, vor die alte Holztüre ist eine weitere Gittertüre installiert. Denn im Innern der Kirche hängt ein kostbarer Kirchenschatz, der seinesgleichen sucht. Das Enghausener Kruzifix.
„Kirchenbesucher können bei Fam. Hösl Hausnummer 5 zur Kirchenführung klingeln“, steht auf einem verblassten Zettel, der neben der Gittertür hängt. Fast entschuldigend der Zusatz: „Wenn keiner zu Hause ist, bleibt die Kirche geschlossen. Wir bitten um Verständnis!!!“ Man muss also Glück haben, dass Theresa Hösl daheim ist, wenn man sich auf den Weg macht in den kleinen Weiler nördlich von Moosburg. Oder man meldet sich vorher telefonisch an (08764/12 66).
Als Theresa Hösl um die Jahrtausendwende das Mesneramt übernahm, war der 1,82 Meter große Enghausener Christus noch über 200 Jahre jünger. Man datierte das geschnitzte Monumentalkreuz damals nämlich noch auf das zwölfte Jahrhundert. 2005 aber, als im Zuge einer aufwendigen Restaurierung das Kreuz mittels Radiokarbonmethode (C14-Datierung) an der Hochschule Zürich untersucht wurde, kam die Sensation ans Licht: Das Enghausener Kruzifix ist zwischen den Jahren 890 und 900 entstanden. Also karolingischen Ursprungs – und damit älter als das Gero-Kreuz im Kölner Dom, das um das Jahr 970 geschaffen wurde und bis dahin als ältestes Großkruzifix nördlich der Alpen galt.
„Des war scho a Erlebnis“, schwärmt die Mesnerin und verrät, dass sie und die 45 anderen Einwohner von Enghausen richtig stolz sind auf ihr Kreuz. Und auf den Christus, der keinen leidenden Eindruck vermittelt, sondern dem Betrachter mit offenen Augen eindringlich bis ins Herz zu schauen scheint. „Die Kölner ham uns des ned glaubt“, lächelt Hösl, „aber des können’s uns nicht mehr streitig machen.“ Denn zusätzlich zur C14–Datierung wurde das Kruzifix im Klinikum München-Harlaching ins MRT geschoben. „Des war lustig, weil der Apparat aufgefordert hat: ,Jetzt bitte die Luft anhalten, jetzt bitte weiteratmen ‘“, erzählt Hösl.
Die Enghausener verdanken die Kostbarkeit eigentlich einer Moosburger Modernisierungswelle. Das stattliche Kruzifix hing nämlich ursprünglich dort in einem Kloster. Um das Jahr 1500, als das Enghausener Kirchlein mit dem eindrucksvollen Sternenrippengewölbe errichtet war, wurde das Chorherrenstift in Moosburg neu ausgestattet. Das möglicherweise von einem König 600 Jahre zuvor gestiftete Kreuz kam dabei in die kleine Filialkirche. „Ah, hängen wir’s nach Enghausen raus, da ist’s guad draus’d“ – also gut aufgeräumt, wie sich Theresa Hösl die Entscheidung der Moosburger erklärt.
Sie selber hat eine enge Beziehung zu dem altehrwürdigen Kruzifix. Bei vielen Schicksalsschlägen habe ihr der Gekreuzigte geholfen: Als bei ihrem Mann die Bauchschlagader operiert wurde, die kurz vorm Platzen war, hat sie in der Kirche gebetet. „Er hat es überstanden.“ Sie sagt den Besuchern immer: „Wenn’s Sorgen habts, lasst’s es bei unserm Herrgott.“
Jeden Tag ist Theresa Hösl in der Kirche. Schließlich läutet sie mittags um 12 Uhr die Glocken, den Engel des Herrn. So richtig altmodisch am langen Glockenseil, das aus dem Kirchturm bis nach unten reicht. Wenn ein schweres Gewitter aufzieht, läutet die Mesnerin zur Warnung.
Vor bald einem Jahr, am 20. Juni, zog ein Unwetter heran, Therese Hösl war beim Mesnertreffen in Wang. „Jetzt muss i heim, zum Gewitteranläutn“, sagte sie. Die anderen Mesner wollten sie zurückhalten: Anläutn, das täten sie schon lang nicht mehr. Doch Hösl wollte heim. Auf der Fahrt hat sie großes Glück: Zwei Meter vor ihrem Wagen sind zwei Bäume auf die Straße gestürzt. Sie sucht Unterschlupf unter einem Carport. Die Straße nach Moosburg ist von umgestürzten Bäumen blockiert. „I kimm heit nimma hoam, in Wang is ois kaputt“, hat sie ihrem Sohn am Handy gesagt. Ihre größte Sorge ist, dass sie daheim die Menschen nicht vorm Gewitter warnen kann. Und dabei war in Enghausen nichts bis auf zwei Minuten Starkregen. Ins Gästebuch der Kirche hat sie geschrieben, dass sie wieder gesund heimgekommen ist. „Da hat das Kreuz Enghausen mal wieder Heil gebracht“, ist Theresa Hösl überzeugt.
Als 2005 die 150 000 Euro teure Renovierung abgeschlossen war – das Erzbistum München und Freising hat den Großteil getragen, aber auch jede Enghausener Familie steuerte damals 300 Euro bei –, wurde das berühmte Kreuz zunächst auch im Freisinger Diözesanmuseum gezeigt. Und am 10. September 2006 kam es ganz groß raus: Beim Heimatbesuch des bayerischen Papstes Benedikt XVI. wurde es beim zentralen Gottesdienst in München-Riem hinter der Kathedra des Papstes angebracht. Therese Hösl war auch dabei. Mit leuchtenden Augen erzählt sie, wie sie ganz vorne gestanden hat, vom Papst die Kommunion bekam – und ihr Kreuz hinter der Altarinsel sehen konnte. Die Versicherung wollte damals für fünf Tage eine Million Euro in Rechnung stellen – „da ham mir gesagt, das kenna mir uns nimmer leisten. Da hat es kurzerhand die Schweizergarde fünf Tage rund um die Uhr bewacht. Das war eine Geste!“
Dass das Kreuz überhaupt noch in ihrer Kirche hängt, verdanken die Enghausener dem damals für die Seelsorgsregion Nord zuständigen Weihbischof Bernhard Haslberger. Denn als das Kruzifix im Diözesanmuseum in der Kreuzausstellung gezeigt wurde, soll der damalige Leiter Peter Steiner gesagt haben: „Das Kreuz, das kriegt’s ihr nimmer, das bleibt im Museum“. Aber Haslberger habe erwidert: „Das kommt gar nicht in Frage. Die Leut haben schon 500 Jahre auf das Kreuz aufgepasst, das machen sie auch in nächster Zeit.“
Mit Festzug, Fahnen und Musik wurde das Kreuz am 6. Mai 2006 zurückgebracht nach Enghausen – Therese Hösl hat es mit zwei Glocken eingeläutet. Seither hängt es dort an der Chorseitenwand, doppelt gesichert mit einer Alarmanlage. Losgegangen ist die Sicherung bisher nur zweimal: Ausgelöst von einer Fledermaus und von einem Frosch. Der Alarm war im ganzen Ort zu hören.
Unbemerkt gelangt niemand zum Enghausener Kreuz. Nur mit Mesnerin Theresa Hösl. Seit 2006 kommen jedes Jahr mehrere hundert Menschen, um das Kreuz zu sehen. Im Mai und Juni reisen sie sogar mit Bussen an. Auch aus dem anfangs ungläubigen Köln. Fast jeden Sonntag klingelt jemand an Hausnummer 5. Da, wo die Hühner gackern und das Vieh schnaubt – und der Jesus über alles wacht.