Essenbach – Andreas Wischinski sitzt gemütlich im Hängestuhl auf der Terrasse seines Hauses in Oberahrain (Markt Essenbach). Der Blick in die Ferne ist nicht gerade idyllisch: Denn nur einige hundert Meter von seinem Grundstück entfernt ragt der dampfende Kühlturm des Kernkraftwerks Isar 2 empor. Den 35-Jährigen stört diese Aussicht jedoch nicht. Im Gegenteil: „Es sieht sogar irgendwie ganz schön aus.“ Bis 2018 lebte er im benachbarten Ohu – an den übergroßen dampfenden Nachbar hat er sich längst gewöhnt.
Am Samstag wird Isar 2 nach 35 Jahren Betrieb abgeschaltet – und die Marktgemeinde Essenbach bereitet sich auf ein Leben ohne Atomkraftwerk vor. Doch viele Menschen in der Gemeinde haben sich längst an das Leben am Meiler gewöhnt – und einige hadern mit dem Ende der Ära.
Melinda Weber arbeitet als Pharmazeutisch-technische Assistentin in der St. Wolfgang-Apotheke im Ortszentrum von Essenbach. Sie steht der Abschaltung von Isar 2 skeptisch gegenüber, weil das Kraftwerk ein großer Arbeitgeber war. Die 40-Jährige ist im Essenbacher Ortsteil Ahrain aufgewachsen und wohnt jetzt ein paar Kilometer weiter in Ohu. „Ich bin mit dem Kraftwerk aufgewachsen und hatte nie Angst, dass etwas passieren könnte. Den Leuten in meinem Umkreis geht es ähnlich“, sagt Weber. Sie erzählt, dass sie den Blick auf den dampfenden Kühlturm fast schon vermisst, wenn sie verreist. Wenn sie zurückkommt und die Wolke wieder sieht, weiß sie: Jetzt bin ich wieder daheim.
Isar 2 wurde am 9. April 1988 in Betrieb genommen. Bis zu seiner Abschaltung wird das Kraftwerk etwa 404 Milliarden Kilowattstunden Strom erzeugt haben. Die jährliche Leistung von Isar 2 lag bei zwölf Milliarden Kilowattstunden, was etwa zwölf Prozent des in Bayern jährlich verbrauchten Stroms entspricht. Mit dem Rückbau kann erst begonnen werden, wenn die Genehmigung da ist. PreussenElektra, eine E.ON-Tochter und Betreiber von Isar 2, hofft, diese Anfang 2024 zu bekommen. Der Block Isar 1 wurde bereits am 17. März 2011 vom Netz genommen. Seit 2017 läuft dort der Rückbau.
Therese Haubold hätte ebenfalls kein Problem damit, wenn Isar 2 weiterlaufen würde. Die gebürtige Niederländerin arbeitet in der Bäckerei Brotmacher in Essenbach. Sie kam in den Anfangsjahren von Isar 2 nach Essenbach. „Ich habe damals ein Grundstück gekauft und wollte keinen Blick auf dieses Ding haben, weil es irgendwie etwas Bedrohliches ist. Jetzt sind wir das aber gewohnt“, sagt Haubold. Sie nahm an einer Führung durch das Kraftwerk teil. „Wir brauchen Strom“, sagt sie. Auch für die Gemeinde sei das Ende der Atom-Ära nicht gut: „Wir sind eine reiche Gemeinde – das könnte sich ändern.“
Während viele Essenbacher noch hadern, plant PreussenElektra bereits den Rückbau. Zunächst sollen radioaktiv belastete Elemente abgebaut werden. Zu den ersten großen Demontageprojekten gehören die Einbauten innerhalb des Reaktordruckbehälters – quasi das nukleare Herz eines Kernkraftwerks. Um mit dem endgültigen Abriss beginnen zu können, müssen die Gebäude und alle Teile darin nachweislich frei von radioaktiver Strahlung sein. Zu Beginn des Rückbaus werden die rund 450 eigenen Beschäftigten am Standort weiter benötigt. Später werden auch externe Fachfirmen eingesetzt.
Florian Kreuzpaintner (30) kommt gerade von einer Baustelle, als er sein Grundstück in Oberahrain betritt. Wenn er in sein Haus geht, blickt er ebenfalls direkt auf den Kühlturm von Isar 2. „Leute, die hier vorbeifahren und das Kraftwerk sehen, denken: Ah ja, böse Atomkraft. Und Leute, die hier wohnen und vielleicht einen Bezug dazu haben, sind anders eingestellt“, sagt der 30-Jährige. Das Kernkraftwerk ist für Kreuzpaintner fast schon eine Familienangelegenheit geworden. „Mein Vater arbeitet darin, mein Onkel hat darin gearbeitet und mein Opa war auch drin“, erzählt der 30-Jährige. Die meisten von Kreuzpaintners Bekannten seien ebenfalls der Meinung, dass Isar 2 weiterlaufen sollte. „Hier schalten sie es ab und an der tschechischen Grenze bauen sie es auf“, sagt er. „Ist das dann sicherer? Wenn es in Tschechien hochgeht, haben wir hier genauso das Problem.“ Er ist der Meinung, momentan brauche man die Atomkraft eben noch.
Zurück auf Andreas Wischinskis Terrasse. Er hat den Ausblick zwar fast ins Herz geschlossen. Aber er sagt auch: „Dass man die Atomkraft herunterfahren sollte, ist eh klar.“ Was ihm und auch anderen Menschen in Essenbach Sorgen bereitet: „Das Zwischenlager ist für mich eher das Problem.“ Am Standort Isar 2 werden radioaktive Abfälle zwischengelagert. Die Einheimischen befürchten, dass der Atommüll noch viele Jahre vor ihren Haustüren rumliegen wird – selbst wenn der Kühlturm längst aufgehört hat zu dampfen.