Rottenstuben – „Bissl narrisch muss man schon sein“, sagt Rainer Preisinger und grinst. Seine Finger tasten nach dem glatt geschepsten Baumstamm, der vor ihm neun Meter senkrecht in die Höhe ragt. Dann atmet er tief ein und stößt sich mit dem rechten Fuß vom Boden ab. Im Passgang – rechter Arm, rechtes Bein, linker Arm, linkes Bein – klettert er den Stamm hinauf. Der 30-Jährige, ein drahtiger Kerl, ist flink am höchsten Punkt seines Übungsbaumes. Finger und Zehen wissen eben genau, wohin sie greifen müssen – immerhin ist Preisinger schon sein halbes Leben lang ein Maibaumsteiger.
In Hebertsfelden im niederbayerischen Kreis Rottal-Inn sind die Maibaumsteiger seit jeher echte Superhelden. Kein Wunder: Sie kraxeln den Maibaum, der im Weiler Rottenstuben steht, ja auch mühelos wie Spinnen hinauf. Am 1. Mai wird der Baum zwar wie überall sonst in Bayern aufgerichtet, aber traditionell erst am Pfingstmontag auf Zeit erkraxelt. So ist das seit 1971. Dem Sieger winken lauter Applaus, ein Wanderpokal – und auf ewig Glanz und Gloria in der 3800-Einwohner-Gemeinde.
Tausende Menschen feiern inzwischen am Pfingstmontag in Rottenstuben. Die Schiedsrichter werten nicht mehr per Augenmaß. Eine Lichtschranke misst exakt, wann jeder Maibaumkraxler vom Boden abhebt. Heute ist das Fest so bekannt, dass auch Maibaumsteiger aus anderen Regionen anreisen, so wie die Pramtal-Kraxler aus Österreich. Die Hiesigen erzählen aber am liebsten von ihren eigenen Legenden: von den Dreibergsteiger-Brüdern und den Lindinger Buam zum Beispiel. Von den ersten beiden Kraxlerinnen 1985. Und dem Auftritt eines Lindingers bei „Wetten, dass..“ – kein Modellathlet, aber Wettkönig trotz Bierbauch.
Jede Generation hat ihre Steiger-Dynastie. „Als Bub war ich jedes Jahr auf dem Fest und habe die Steiger angehimmelt“, sagt Preisinger. „Meinen Papa habe ich so lange genervt, bis er mich der damaligen Gruppe vorgestellt hat.“ Preisinger ist 15, als er mit dem Kraxeln anfängt. Nicht am Maibaum, nicht an einem Übungsbaum – auf einer Leiter. „Der Veigl Bernhard, mein Idol und Mit-Begründer der Zeiinger Maibaumsteiger, hat mir alles beigebracht“, sagt Preisinger, der den Verein heute leitet. „Auf der Leiter übt sich die Technik am besten. Später muss man dann nur noch den Nervenkitzel aushalten.“
Wie wahr. Denn die Maibaumsteiger hält weder Seil noch Netz, wenn sie beim Wettklettern an Pfingsten auf zehn Metern Höhe abrutschen. In Rottenstuben würden sie auf ein Betonfundament fallen oder auf Zuschauer und Biertische. Im Stadel, in dem der Übungsbaum der heutigen Generation Zeiinger Kraxler steht, auf Knochenpflaster.
„Passiert ist bisher noch nix“, sagt Preisinger. Er klopft auf die Wand aus Holz in seiner Übungsröhre – der Raum ist neun Meter hoch, aber nur fünf Quadratmeter groß. „Die meisten Steiger hören auf, wenn sie Kinder kriegen.“ Es ist noch gefährlicher, wenn Angst mitklettert.
Mit seinen 30 Jahren ist Rainer Preisinger noch unerschrocken, aber der älteste Steiger in seiner vierköpfigen Gruppe. Auch Simon „Sandner“ Reiterer (23), Stefan Lugeder (26) und Tristan Bumeder (25) kraxeln schon seit Jahren. „G’schick muss einem auch im Blut liegen“, sagt Lugeder. „Reine Muskelpakete können einpacken. Klar braucht man Schmalz, aber man darf auch nicht zu schwer sein.“ Ins Fitnessstudio gehen die Burschen nicht. Preisinger ist Schreiner und Vorplattler beim Trachtenverein Lindenthaler. Bumeder ist Zimmerer. Lugeder radelt. Und der Sandner trainiert beim Kellnern – 18 Mass sind sein Rekord.
Nachwuchs für die Gruppe zu finden, ist schwer. Viele geben zu schnell auf. Sie verlässt der Ehrgeiz. „Man muss lange üben und mit Hand und Fuß seinen eigenen Rhythmus finden“, sagt Preisinger und schwingt sich wieder an den Übungsbaum. „Der Körper muss im Dreieck zum Stamm stehen und der Hintern darf nicht zu weit nach unten sacken.“ Das kostet zu viel Kraft. Reine Physik.
Aber Grips und G’schick allein machen Rainer Preisinger nicht zum vierfachen Sieger im Wettkraxeln von Rottenstuben – mit persönlicher Rekordzeit von 5,7 Sekunden. Und ohne dieses eine, ganz bestimmte Hilfsmittel könnten die vier Zeiinger Steiger am Pfingstmontag hinterher auch keine Akrobatik-Kunststücke am Maibaum aufführen. Vor allem für die 20 Figuren – sie heißen etwa „Skispringer“, „Giggalhax“, „Raute“ oder „Bichler Kerze“ – haben die Burschen ausreichend Grip bitter nötig. Teilweise hält bei diesen Akrobatik-Nummern ein Steiger das Gewicht der ganzen Gruppe. „Zurre (zum Bam)“ schreit, wer nicht mehr kann.
„Ohne etwas Kleber geht’s natürlich nicht“, sagt Preisinger und zeigt auf die Kochtöpfe, die rund um den Übungsbaum verteilt am Boden stehen. Sie sind randvoll mit einer klebrigen Masse. Der braun-schwarze Batz riecht nach Lagerfeuer, Teer und Morast. Mit Genuss greift Preisinger in einen der Töpfe und reibt sich die Handflächen mit der zähen Pampe ein. Lugeder, Bumeder und der Sandner sitzen auf einer Holzbank und schmieren sich die Masse erneut auf Fußballen und Zehen. Als Bumeder sich wieder auf den Übungsbaum schwingt, schmatzt jeder Schritt.
Im Übungsraum züngeln blaue Flammen aus einem Gasheizer. Es wird immer stickiger, aber die Tür muss jetzt geschlossen bleiben – damit das schwarze Gemisch sich endlich erwärmt. 20 Grad Lufttemperatur wären ideal. „Wir spielen Frau Holle“, sagt Preisinger. Das Gebräu rührt er mit Saupech, Keilriemen- und Pflanzenöl an. Vor dem Erhitzen ist Saupech ein pulverförmiges Kiefernharz. Es wird sonst zur Enthaarung von geschlachteten Schweinen verwendet.
Was sonst noch im Spezialkleber steckt, bleibt geheim. Beim Maibaumsteigen könnten das Rezept des Gebräus und seine Konsistenz über Sieg oder Niederlage entscheiden. Und viel schlimmer – über Leben oder Tod. „Ist es zu kalt, bleibt es zu hart“, erklärt Lugeder, von Beruf Chemiemeister. „Bei Regen wird es spiegelglatt und bei zu viel Sonne immer schmieriger.“
Der richtige Grip will am Pfingstmontag also mit Köpfchen gewählt sein. Bei Regen verschiebt der Veranstalter, der Wander- und Heimatverein Hebertsfelden, das Kraxel-Spektakel am Maibaum – alles andere wäre viel zu gefährlich. „Unser Traum ist es ja, mal auf einen oberbayerischen Maibaum zu kraxeln“, sagt Preisinger. „Aber ihr schreibt den Arbeitsschutz ja sicher noch viel größer“, witzelt Mit-Steiger Lugeder.
In Oberammergau lassen sich Männer zur Passion die Bärte stehen – in Hebertsfelden zu Pfingsten die Hornhaut. „Dass wir ab dem 1. Mai barfuß laufen und die Hornhaut wuchern lassen, gehört zum Training“, sagt Lugeder und lacht. Der Spezialkleber ist alles andere als pflegend. „Untrainiert“ bleibt beim Wettsteigen gerne mal abgerissene Haut am Maibaum kleben – oder die zarte Haut zwischen Ballen und Zehen reißt schmerzhaft ein. Vorbereitung ist für die Maibaumsteiger eben alles. Und ein bisschen leiden gehört dazu, wenn man zur Legende werden will.