München – Gehen Sie weiter. Es gibt hier nichts zu sehen. Nichts. Nichts! Die Werkstatt, um die es gehen soll, ist abgerissen. Der Volksschauspieler, der hier Filme drehte, ist seit 30 Jahren tot. Und sein Kobold ist leider unsichtbar. Nichts zu sehen, nur eine graue Wand an einem grauen Gehweg neben einer grauen Münchner Durchgangsstraße. Bis ein schwerer BMW heranrauscht, von dessen Rücksitz sich Markus Söder schält. Er schaut kurz, stellt sich dann breitbeinig vor die graue Wand, faltet die Hände vor dem Bauch und sagt: „So.“ Und, ehe irgendjemand auch nur Pieps antworten kann: „Dann erzähl ich mal, warum und wieso.“
Die Kameras rattern, Mikrofone stochern durch die Luft, Journalisten und Passanten wedeln mit den Handys. Das graue Nichts ist plötzlich weg, mit einem Haps verschluckt von Markus Söder. Für die folgenden 15 Minuten ist hier, München-Lehel, Gehweg, langsam einsetzender Nieselregen, das Epizentrum der Politik. „Ein kleines Signal“, sagt Söder feierlich, „aber ein wichtiges Signal.“
Wer Markus Söder verstehen will, sollte so einen Auftritt erleben. Wie er aus einem Nichts von Termin eine Riesenshow macht. Der 30. Todestag des Volksschauspielers Gustl Bayrhammer: In anderen Ländern schriebe ein Unterregierungsrat aus dem Medienreferat einen würdigenden Kurztext fürs Amtsblatt. In Bayern fährt der Ministerpräsident dahin, wo mal die Werkstatt stand, in der „Meister Eder“ die Pumuckl-Filme drehte. Die Bayrhammer-Enkel sind da, der Oberbürgermeister, die Hausbesitzer, Kamerateams und alle größeren Zeitungen. Die Polizei sichert mit einem Dutzend Leuten den Gehweg und sperrt eine Fahrspur.
Söder hält eine spontane Ansprache über den Wert des Gedenkens, über Pumuckl –und sich: „Ich war immer ein Fan von ihm.“ Eine Mitarbeiterin der Staatskanzlei hat eine 20 Jahre alte Pumuckl-Stoffpuppe aufgetrieben, der Ministerpräsident greift sie sich, sobald die Fotos gemacht werden, und gibt sie nicht mehr aus der Hand. Der Oberbürgermeister darf Pumuckl nur am Ärmel berühren, Söder lässt nicht los. Es wird deshalb fast kein Foto von diesem Termin geben, auf dem nicht Kobold und Politiker im Zentrum stehen. Der Rest: Statisten.
Meister Söder und sein Pumuckl – einer dieser Auftritte, die Spott auf sich ziehen, aber auch Respekt. Kein Anlass ist zu klein, als dass sich nicht etwas Großes draus machen ließe. Und was heißt das dann erst bei Terminen, wo rote Teppiche und Blaskapellen auf den Ministerpräsidenten warten! Es sind viele, denn Söder ist seit nunmehr eineinhalb Jahren – kaum fielen die von ihm verordneten Masken – in einer atemberaubenden Rastlosigkeit unterwegs. Bei Weltkonzernen und Wirtschaftsbossen, bei Bierfesten und Bonsai-Terminen. Sieben Tage die Woche, drei oder vier am Tag. Tendenz steigend.
Auswahl der letzten Tage: Feuerwehrfest in Puchheim, Maidult Passau, Gemüsefest im Knoblauchsland, Metzgereibesuch in Nürnberg, Almbauerndialog in Oberaudorf, Pflanzen eines Freundschaftsbaums in Forstenried, nicht zu vergessen das Grußwort zu 135 Jahren Friseurverband in Nördlingen. Zur Hälfte der Termine wäre früher ein Staatssekretär hingeschlurft, höchstens, jetzt lädt sich der Chef zur Not auch selber ein. Im Schichtdienst springen die Mitarbeiter Söder hinterher, die Staatskanzlei wurde personell ja satt aufgestockt. Dazu begleitet ihn einer der besten Fotografen Bayerns fast rund um die Uhr, kein Termin ohne Top-Bilder.
Mit Fleiß und eiserner Disziplin, Letzteres war früher nicht seine Stärke, malt Söder ein neues Bild von sich. Systematisch. Er will die Corona-Zeit vergessen lassen und vor allem den Kampf um die Kanzlerkandidatur 2021. Bei Licht betrachtet, hat der CSU-Vorsitzende Söder ja noch nie eine Wahl klar gewonnen, niemand in der Geschichte der Partei fuhr so ein schlechtes Landtags-Ergebnis ein wie er. Die 37,2 Prozent vom letzten Mal sind ein historischer Tiefpunkt – um minus 10,5 Prozentpunkte rauschte die Partei in den Keller. An der verlorenen Bundestagswahl der Union, CSU: minus 7,1 Prozentpunkte, Regierung futsch, hat er großen Anteil. Und von seinen Wahlversprechen hat er manche – Stichwort: Wohnungsbau – haushoch verfehlt.
„Was Söder nun mit ganzem Einsatz vollführt, ist für mich nichts anderes als ein Ablenkungsmanöver von den Versäumnissen seiner Amtszeit“, sagt Grünen-Fraktionschef Ludwig Hartmann. Aber: Es funktioniert. Vor allem auch, weil sich Söder eine Öffentlichkeit aufbaut jenseits jener Leitartikler, die ihn belächelnd unterschätzen. Im Spiegel mag ihm ein superkritisches Essay Prinzipienarmut und ein „politisch-intellektuelles Vakuum“ nachweisen – seine gelebte Realität sind hunderttausende Besucher bei seinen Reden, ein nicht nachlassender Foto-Ansturm bei jedem Termin, so wüst, dass eine Zeit-Reporterin von „Selfie-Orgien“ schrieb. Hinzu kommen Millionen Follower online.
Die kritischen Geister in seiner Partei – ein paar gibt es noch – müssen seinen Fleiß anerkennen. „Das beeindruckt die CSU sehr“, sagt der ehemalige Vorsitzende Erwin Huber. „Aber es ist auch notwendig, weil die Partei noch nicht im Kampfmodus ist.“ Der inzwischen 76 Jahre alte Niederbayer hat eine „gewisse Lethargie“ ausgemacht. Bis zur Wahl kann sich das ändern, aber es bleibt die Gefahr, dass am 8. Oktober nicht genügend zum Wählen gehen. Oder vielleicht doch bei den Freien Wählern ihr Kreuz machen. Das Ergebnis steht ja schon heute fest: Söder bleibt Ministerpräsident, Hubert Aiwanger der nervige, aber letztlich doch handsame Koalitionspartner.
Freilich, es bleibt ein Vorwurf an Söder: fehlende Substanz. Je schneller und wuchtiger er etwas verspricht, desto dünner ist oft die Lage. Seine Verordnung zum Wolfsabschuss: juristisch so wackelig, dass sie nur mit Not bis zur Wahl halten wird. Das neue Grundsatzprogramm der CSU: dünn, eine Umformulierung bekannter Positionen, nichts, was neue Wählerschichten anzöge. Die Opposition rügt Söder vor allem, weil er vor lauter Terminen kaum noch im Landtag präsent ist, die Bayern-SPD forderte sogar Diäten von ihm zurück. „Für Söder persönlich mag es schön sein, durchs Land zu touren und sich von seinen Fans beklatschen zu lassen“, sagt der Grüne Hartmann. Er wirft Söder „effektheischende Schlagzeilen“, aber falsche Weichenstellungen in der Energie- und Wirtschaftspolitik vor.
Der CSU sind solche Vorwürfe egal. Der Parteitag am Samstag in Nürnberg wird gar nicht anders können, als Söder mit Jubel zum Spitzenkandidaten auszurufen. Sicherheitshalber wird nicht gewählt, nur offen abgestimmt. Er ist eh alternativlos. Mögliche Rivalen halten still: Ilse Aigner, die charmante Landtagspräsidentin aus Oberbayern, hat den Franken unlängst in einer hymnischen Wortmeldung im Parteivorstand vorgeschlagen („dynamisch“, „unglaublich“, „toll“). Ohne zu zwinkern. Manfred Weber, der kundige Außenpolitiker, steht knietief in Vorwürfen um Extra-Gehälter, eine Polizei-Razzia und Kontakte zu Italiens Rechtsaußen-Regierung.
Söder, der zwischenzeitlich den Rückhalt unter seinen Leuten zu verlieren drohte, ist derweil obenauf. Die Umfragen liegen über 40 Prozent, das ist für CSU-Verhältnisse zwar noch schlecht, aber besser als vorher – und somit seine Lebensversicherung. Es gibt keine Wechselstimmung. Er hält das hochtourige Tempo durch. Und beißt sich auf die Zunge bei Fragen nach der absoluten Mehrheit, die rechnerisch zumindest in Reichweite ist. Er ahnt: Das würde ihm als Arroganz ausgelegt.
Manchmal nur bröckelt die Fassade, zeigt sich ein gestresster, angefasster Söder. In den seltenen Fällen, wenn etwas nicht klappt. Wenn, wie beim Aschermittwoch in Passau, der falsche Marsch zum Einzug gespielt wird. Oder dann, wenn er sich von den Medien nicht hinreichend freundlich behandelt fühlt. Wenn er in Journalisten Grünen- oder FDP-Sympathisanten wittert. Im Parteivorstand prahlte er unlängst mit seinen vielen Followern und machte sich über Leser der FAZ-Printausgabe lustig. Eine Zeitung, die mehr auf Inhalt als auf Fotos setzt. Dabei dürfte seine Wählerquote bei Letzteren höher sein. Jedenfalls stießen die Sätze älteren Zuhörern auf.
Im April geriet er vor laufenden Kameras mit einem BR-Journalisten aneinander, raunzte ihn an, warum er in der Pressekonferenz nicht mitschreibe. Es war in den Wochen, als selbst wohlmeinende Wegbegleiter Söder warnten, es nicht zu übertreiben. Vor allem in der Atom-Debatte, als er inbrünstig einen Weiterbetrieb der Meiler unter bayerischer Eigenregie forderte. Rechtlich ist das durch das Grundgesetz kategorisch ausgeschlossen. Söder weiß das, jeder weiß das. Aber es reichte für eines seiner vielen Interviews in der „Bild“-Zeitung. „Der Markus“, sagt einer, der ihn schon lange kennt, „läuft immer Gefahr, es zu überziehen.“ Die Sorge: Vielleicht gehen den Leuten die Würstelfotos und Selfie-Orgien in fünf Monaten ja auf den Wecker.
Zurück auf dem Gehweg im Lehel. Söder ist weg. Pumuckl ist weg. Die Kamerateams stapfen davon. Doch wo zuvor das graue Nichts war, ist jetzt ein bronzenes Etwas. Es ist formal eine Plakette zur Erinnerung an Gustl Bayrhammer und seinen Pumuckl. Vor allem ist es eine Würdigung des derzeit größten Volksschauspielers der bayerischen Gegenwart, und das unverhohlen. Denn die große Inschrift auf der Plakette lautet: „Dr. Markus Söder, Bayerischer Ministerpräsident.“