Nürnberg – Der „Wettbewerb für eine bessere Gesellschaft“ ist entschieden, Menschen, die Schwimmbäder und Dorfbäckereien gerettet haben, Reparaturcafés betreiben und Lebensmittel verwerten, bevor sie verderben, stellen sich auf zum Erinnerungsbild. Es wirkt wie ein Mannschaftsfoto, und der Mann, der auf vielen gestanden ist, positioniert sich ganz am Rand. „Ich habe nichts getan, ich war nur ein Teil der Jury und habe ausgewählt“, sagt Thomas Hitzlsperger. Es ist die Preisverleihung der Aktion „Das gute Beispiel“ des Bayerischen Rundfunks. Thomas Hitzlsperger gehört zur Jury. Im „BR Studio Franken“ in Nürnberg begrüßt ihn eine Dame vom Sender: „Ich kenne keine Fußballer, aber Sie kenne ich.“ Sie habe seine „Reportage aus Dubai“ gesehen. Thomas Hitzlsperger lässt das stehen, er ist zu höflich, um zu verbessern. Es ging um Doha, um Katar, die Fußball-WM.
Obwohl es jetzt zehn Jahre her ist, dass er seine Sportler-Karriere beendet hat, ist die erste Wahrnehmung von ihm immer noch die des Fußballers. Dass man ihn heute anfragt für Veranstaltungen, die mit Fußball eigentlich nichts zu tun haben, liegt daran, dass er als Spieler den Ruf hatte, über Kabine und Stadion hinauszudenken. „Ich habe als Fußballer öfter mal ein Buch gelesen, das fiel auf“, sagt Hitzlsperger.
Das Lesen ist ihm immer geblieben. Gerade beschäftigt ihn Benjamin von Stuckrad-Barres „Noch wach?“ über Springer-Verlag, Medienwelt, Abhängigkeiten aus Machtverhältnissen. Ein Freund hat ihm gesagt, „dass das alles gar nicht stimmt. Doch ich habe keinen Grund, es anzuzweifeln. Man sollte sich mit den Inhalten auseinandersetzen und nicht die Quelle diskreditieren“. Er hat selber schon geschrieben. Für „Die Zeit“ die Kolumne „Alles außer Fußball“, zudem war er Autor für den „Störungsmelder“, ein Blog des Hamburger Wochenblatts über rechtsextreme Umtriebe, Rassismus, Antisemitismus.
Thomas Hitzlsperger stand für eine klare gesellschaftliche Haltung, deshalb war es bei ihm immer so: Er war ein prominenter Fußballer, Nationalspieler, aber eben noch mehr. Und schließlich auch der erste und bis heute einzige deutsche Spitzenfußballer, der erklärte, ein schwuler Mann zu sein.
Im Januar 2014 war sein Coming-out, auch das werden bald zehn Jahre. Es war das Tagesthema in Deutschland, fand internationale Beachtung. „Die Prognose damals lautete: Wird schwer im Fußball“, blickt Hitzlsperger zurück. Doch das bestätigte sich nicht. Er wurde zum gefragten Mann. Die ARD verpflichtete ihn als Nachfolger für Mehmet Scholl, „ich hatte eine Superposition, war der Experte Nummer eins“. Hitzlsperger sagt: „Ich gestehe: Ich bin gerne im Fernsehen.“
Der Deutsche Fußball-Bund (DFB) machte ihn zum Botschafter für Vielfalt. Der VfB Stuttgart, der Club, mit dem er als Spieler 2007 Deutscher Meister geworden war, eröffnete ihm ab 2016 die Funktionärslaufbahn. Thomas Hitzlsperger stieg auf: Leiter des Nachwuchsleistungszentrums, Sportvorstand, mit 37 war er Vorstandsvorsitzender. Er stand für einen neuen VfB Stuttgart, der schwierige sportliche Phasen bewältigte, weil sich ein neuer Umgang miteinander etablierte, er bewältigte die Corona-Krise. „Der VfB – das hat Substanz“, sagte Hitzlsperger.
Und doch ging es auseinander mit ihm und dem VfB. Es war eine komplizierte Angelegenheit, bei der jede Seite ihre Wahrheit hatte. Hitzlspergers Gegenspieler, Clubpräsident Claus Vogt, galt auch als einer der Guten, Gründer des „FC PlayFair! Verein für Integrität im Profifußball“. Es kam jedenfalls zum Konflikt, in dem Hitzlsperger mit einem Brief an Vogt vorpreschte. In Fan-Kreisen verlor er, obwohl quasi Vereinsikone, an Rückhalt. Er sah ein: „Es wurde so politisch, dass ich nicht mehr die Mittel hatte, es zu lösen.“
Thomas Hitzlsperger stieg aus beim VfB, um dem Verein die Befriedung zu ermöglichen. Trotz seiner Desillusionierung sagt er: „Der Abschied war toll.“ Nur sind seine damaligen Mitstreiter inzwischen auch weg, und der VfB Stuttgart hat vieles vom Fortschritt der Hitzlsperger-Ära rückgängig gemacht.
Es ist jetzt gut ein Jahr her, seit Hitzlsperger sozusagen wieder frei ist – und wie damals nach der Spielerzeit und dem Coming-out ist die Frage, wohin es für ihn gehen soll. Er ist ja immer noch jung, 41. Was würde er denn als seinen Beruf angeben? „Das wird man ja ab und zu für Formulare gefragt. TV-Experte?“ Was mit Medien, das stimmt ja auch, da ist er im Geschäft. Aber es ist auch was mit Fußball. Bei einem anderen Club eine Führungsposition anstreben will Thomas Hitzlsperger nicht. Er müsste sich ins Gespräch bringen, aufdrängen, das ist nicht seine Art. Auch Trainer war und ist keine Option, denn: „Ich würde der Beste sein wollen. Aber die Toptrainer sind besessen. Man kennt ja diese Geschichten, dass sie im Restaurant mit Salz- und Pfefferstreuer hantieren. Ich möchte auch das Besteck auf dem Tisch nutzen und gut essen.“
Davon abgesehen kann man sich Hitzlsperger in vielen tragenden Rollen vorstellen – und sein Name wurde auch genannt, als es um die Besetzung der wichtigsten Positionen im deutschen Fußball ging. DFB-Präsident? Es schmeichelt ihm, dass es Stimmen gab, die ihn als integre Persönlichkeit für den Richtigen befunden hätten, den Verband zu führen. Doch als die Weichen gestellt wurden, stand er noch in Stuttgart unter Vertrag. Außerdem räumt er ein: „Ich kenne nur einen Ausschnitt des DFB.“ Bernd Neuendorf, der dann Präsident wurde, empfindet er als „angenehm“. DFB-Sportdirektor? „Dass es Rudi Völler geworden ist, ist für mich in Ordnung“, sagt er, und schon bei der Besetzung der Taskforce, die einen Nachfolger für den nach der Katar-WM zurückgetretenen Oliver Bierhoff suchte, war ihm klar, dass er es nicht werden würde. „Aber es wäre normal gewesen, wenn man mich angerufen hätte.“ Langjähriger Nationalspieler, Erfahrung als Funktionär, jung – eigentlich ideal.
Aber Thomas Hitzlsperger weiß: „Meine Position habe ich durch die Katar-Reportage geschwächt.“ Der Film, den er mit dem BR-Journalisten Nick Golüke gedreht hatte, lief kurz vor der WM im Hauptabendprogramm der ARD. Er besuchte Nepal, ein Land, aus dem viele Wanderarbeiter stammen, die in Katar auf den WM-Baustellen Ausbeutung erlebten. Und sogar den Tod. Er traf die Witwe eines Opfers, sah „die pure Armut in Nepal“. Er hatte beileibe eine differenzierte Ansicht, Katar betreffend, reiste zwei Monate vor der WM nach Doha, unterhielt sich mit katarischen Frauen und Männern. Für ihn war klar: „Es ist nicht verwerflich, dass man Menschenrechtsverletzungen anspricht. Ich bin froh, dass ich es gemacht habe – aber es hatte eben Konsequenzen.“ Es war, als würden Menschen mit kritischer Sichtweise wie er oder Jochen Breyer, der fürs ZDF eine ebenfalls viel beachtete Reportage über die Zustände in Katar drehte, in Haftung genommen für das sportlich schwache Abschneiden der Nationalmannschaft. Die vom DFB nun zu Hilfe gerufenen Alten proklamierten: „Es muss wieder um Fußball gehen.“
Das tat es bei Thomas Hitzlsperger immer, er fand auch Anlass, Spiele der WM zu genießen. Aber es bleibe auch die Feststellung, dass keiner der WM-Teilnehmer sein Anliegen so vertrat wie der American Footballer Colin Kaepernick oder 1968 der amerikanische Leichtathlet Tommy Smith, die im Kampf für Menschenrechte ihre Karrieren opferten. In Katar wurde nichts aufs Spiel gesetzt.
Vielen, glaubt Hitzlsperger, sei noch gar nicht bewusst, wie „Sportswashing“ à la Katar den Fußball verändere und wie unabwendbar politisch der Sport sei. Er hat weiter Kontakt zur Hinterbliebenen-Familie in Nepal. Kaum zu glauben, aber: „Auch der älteste Sohn will nach Katar.“ Wo sein Vater auf einer Stadion-Baustelle starb.
Sein Weg führt Hitzlsperger derzeit öfter nach Dänemark. Clubbesitzer könnte er seit einigen Wochen als Beruf nennen. Der Traditionsverein Aalborg BK, in der höchsten dänischen Liga in Abstiegsgefahr, stand zum Verkauf, eine deutsche Gruppe mit Hitzlsperger und Bernhard Peters stieg ein. Peters war Feldhockey-Bundestrainer, arbeitete auch für Fußballclubs (Hoffenheim, Hamburger SV), ist ein Spezialist für Nachwuchsausbildung. Darum wird es auch in Aalborg gehen. Hitzlsperger will nicht groß von Visionen reden, sondern erst mal machen. Er findet ohnehin: „Deutschland ist besessen von Kommunikation.“ Es sei das Land der PR-Agenturen. Dänemark ist da dezenter. Spanien auch. Neulich erst war Hitzlsperger zu Athletic Bilbao eingeladen, der Club aus dem Baskenland ernannte ihn zum Botschafter: „Weil ich für Werte stehe, für die der Verein auch steht.“
Das Soziale soll bei Thomas Hitzlsperger immer eine Rolle spielen – egal, wie sehr der Fußball ihn in Beschlag nimmt. Bei „Das gute Beispiel“ beim BR wollen die Teilnehmer Selfies mit ihm machen. „Ich kann Reichweite geben“, weiß er um seinen Part. Andere Sport-Promis würden nun mit Verweis auf Termine zum Ausgang hasten, Hitzlsperger sagt: „Ich bleibe noch ein bisschen.“