Wie Aldi den Siegeszug der Discounter einleitete

von Redaktion

VON JANNIS GOGOLIN UND ERICH REINEMANN

Mülheim – Der Siegeszug der Discounter beginnt mit einem chronischen Husten. Es ist das Jahr 1913 und der Essener Bäckergeselle Karl Albrecht ist krank. Er leidet an Bäcker-Asthma, einer Allergie gegen Mehlstaub. Katastrophal für ihn, seine Frau Anna, die gemeinsamen Söhne Karl junior und Theodor und deren Haushaltskasse. Um der staubigen Backstube zu entfliehen, eröffnet Albrecht einen Lebensmittelhandel im Essener Arbeiterviertel Schonnebeck. Der Tante-Emma-Laden läuft mit durchschnittlichem Erfolg – bis die Söhne 1945 das Steuer übernehmen und den Grundstein für die Ära der Discounter legen.

Heute brummt das Geschäft der Discounter. Sie dominieren die Lebensmittel-Branche mit Kampfpreisen, Dauerangeboten und günstigen Eigenmarken. Begonnen hat das Regime der Billigheimer aber mit Karls und Theos simpler Vision für das elterliche Geschäft: ein Grundversorger für das verarmte Nachkriegsdeutschland mit kleinem Sortiment und niedrigen Preisen.

Dieser Ansatz trägt Früchte und macht die Brüder zu Millionären. Schon nach neun Jahren besitzen die Gebrüder über 70 nach heutigen Maßstäben winzige Filialen. Das Unternehmen mit dem Namen Albrecht-Diskont wächst und wächst. Daran ändert auch die Teilung des Geschäftsgebiets 1961 in die Regionen Süd (Karl) und Nord (Theodor) nichts.

Doch kurze Zeit später kommt die Erfolgsstory der Albrechts ins Stocken. Die Konkurrenz stellt auf Selbstbedienung um und dominiert die Branche mit vielfältigem Sortiment und schicken Filialen – die Geburtsstunde des heutigen Supermarkts. Die sogenannten Vollsortimenter finden im wachsenden Wohlstand des Wirtschaftswunders reißenden Absatz. Und das Geschäft der Albrecht-Brüder? Stagniert. Verzweifelte Versuche, auf der Welle der Supermärkte mitzureiten, schlagen fehl. Ihr Unternehmen erscheint abgehängt.

In der Not verschlanken die Brüder das Sortiment erneut, führen flächendeckend Selbstbedienung ein und streichen Personalkosten streng zusammen. Mitarbeiter sind gleichzeitig fürs Kassieren, Putzen und Einräumen zuständig. Die Kunden ihrer schmucklosen Filialen suchen frische, verderbliche Ware und teure Markenprodukte wie Haribo, Heinz, Nesquik oder Kelloggs vergebens. Schicke Regale? Zu teuer, die Paletten der Lieferanten müssen reichen. Ästhetisches Ladendesign? Fehlanzeige, dafür gibt’s sparsame Leuchtstoffröhren und beständige Vinylböden. Als einzige Werbung dienen die niedrigen Preise. Und weil Markenprodukte weiterhin begehrt sind, führen die Gebrüder Albrecht Eigenmarken mit fantasievollen Namen ein. Deutlich günstiger als die Originale, versteht sich. Sie erfinden sich und ihr Unternehmen neu und kürzen neben den laufenden Kosten auch ihren Namen. Aus Albrecht-Diskont wird Aldi. Mit durchschlagendem Erfolg – bis heute.

Doch die 2021 von gestiegenen Energiekosten und der Inflation ausgelöste Preiskrise bei Lebensmitteln trifft Aldi und seine Mitwerber hart. Trotz oder gerade wegen ihres Mantras des tiefen Preises. So knackt der Preis für eine Packung Butter auch bei den Discountern die Zwei-Euro-Marke. Ein fatales Signal für die Kunden, die in diesen Zeiten besonders darauf achten, wie viel sie für ihren Einkauf ausgeben. Für einen identisch gefüllten Einkaufswagen zahlten Verbraucher bei den Discountern im Februar 2023 über 20 Prozent mehr als im Vorjahresmonat, wie das Marktforschungsinstitut Gesellschaft für Konsumforschung (GfK) erhob. Bei konventionellen Supermärkten belief sich der Preisanstieg „nur“ auf zwölf Prozent. Die Erklärung der GfK: „Die Kostensteigerungen bei den im Durchschnitt ‚billigeren‘ Handelsmarken schlagen stärker durch als bei den höherpreisigen Herstellermarken.“

Dafür dürfen die Billiganbieter an anderer Stelle einen Gewinn verbuchen: bei Bio-Artikeln. In den Supermärkten und Bioläden sank der Umsatz im Februar zwar um 18 Prozent, aber immer mehr Discounter führen Bio-Artikel – und können so einen erheblichen Teil der sonst verlorenen Kunden halten. In dem Segment steigerten sie ihren Umsatz um elf Prozent. Die GfK interpretiert diese Zahlen so, „dass Bio und anderweitig qualitativ hochwertige Produkte auch in der Preiskrise bestehen können“.

Eine gute Nachricht für den Handel. Nur: Die Erzeuger der Nahrungsmittel merken davon meist nichts, sagt Hans-Jürgen Seufferlein. Er ist Geschäftsführer des Verbands der Milcherzeuger Bayern und beobachtet den Markt von Milch und Molkereiprodukten genau. Sein Urteil: „Zwischen Supermärkten oder Discountern und mittelständischen Erzeugern herrscht seit Langem ein ungleiches Kräfteverhältnis.“

So beschwere sich auch Branchenprimus Aldi immer öfter über längerfristige Verträge mit Produzenten, wenn sich beispielsweise der Milchpreis in der Vertragslaufzeit zu Ungunsten des Discounters entwickelt. „Dann quengeln sie, wollen nachverhandeln“, erklärt Seufferlein. „Sie nutzen ihre Marktmacht immer häufiger aus.“ Zudem ist er überzeugt: „Lebensmittel können nicht mehr lange so günstig bleiben.“ Nach Angaben des Statistischen Bundesamtes stiegen die Produktionskosten der Milcherzeuger wegen der Energiepreise zwischen Februar 2022 und 2023 um über 20 Prozent. Ein nicht abreißender Trend, den Seufferlein in der gesamten Branche der Lebensmittelerzeuger erkennt.

Um die Preise für die Verbraucher niedrig zu halten, müsste der Einzelhandel auf seine bisherige Gewinnmarge verzichten. Doch daran zweifelt der Marktexperte. „Letztlich spüren die mittelständischen Produzenten die gestiegenen Preise zuerst. Dann der Verbraucher und zuletzt der Handel.“

Die steigenden Erzeugerkosten sind allerdings nicht die einzige Herausforderung, der sich die Billiganbieter stellen müssen. Online-Bestellungen und Lebensmittellieferungen vor die Haustüre werden immer populärer. Was bisher Dienstleister wie Gorillas oder Flink mit Fahrradkurieren erledigen, ist laut Gerrit Heinemann von der Hochschule Niederrhein auch für Discounter denkbar. Die Vollsortierer-Konkurrenz Rewe macht es mit einem eigenen Lieferservice vor. Doch gerade im Bereich Online-Handel attestiert Heinemann den Aldi-Konzernen Defizite. „Aldi ist noch lange nicht so weit“, während Mitwerber Lidl schon einer der zehn größten Online-Händler Deutschlands sei. Aldi ist nicht mal unter den Top 100. Gut möglich also, dass sich der einstige Handels-Revoluzzer einmal mehr neu erfinden muss.

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