München/Peißenberg – Als Philipp Kircher am Morgen in seinen Computer geschaut hat, waren circa 500 Arzneimittel derzeit nicht verfügbar. Im Zusammenhang mit der Corona-Krise hat sich der Zustand nochmals verschärft, sagt der Inhaber der St.-Ulrich-Apotheke in Peißenberg (Kreis Weilheim-Schongau) – „und ich sehe kein Ende in Sicht“. Für ihn und seine Kollegen bedeuten die Engpässe eine Mehrbelastung von vielen Stunden. „Wir klären die Menschen auf, wir telefonieren mit den Ärzten, wir versuchen, vergleichbare Therapieoptionen zu finden, passen die Dosierung an und notfalls stellen wir Arzneimittel wie zum Beispiel Fieber- oder Antibiotikasäfte auch selbst her“, sagt er. Dass Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD) diesen zusätzlichen Aufwand mit nur 50 Cent je Fall vergüten wolle, „darüber habe ich mich wirklich geärgert, denn wir löschen das Feuer der Sparpolitik“, sagt Kircher.
Die Zahl der Apotheken in Bayern sinkt
Es sind Beispiele wie dieses, mit denen Kircher erklären will, warum ein Großteil der Apotheken in Bayern und Deutschland demnächst einen Tag lang streikt. Am 14. Juni bleiben ihre Türen geschlossen – nur einige Notdienstapotheken sollen offen haben. Sie wollen damit auf Lieferengpässe, Personalprobleme, überbordende Bürokratie und eine – aus Sicht der Apotheken – Unterfinanzierung aufmerksam machen. Auch Kircher ist dabei.
Der 38-Jährige hat die St.- Ulrich-Apotheke vor drei Jahren von seinem Vater übernommen, der sie zuvor – inklusive Standortwechsel – rund 50 Jahre geführt hat und seinem Sohn noch heute im Geschäft zur Seite steht. Philipp Kircher hat Pharmazie studiert, sogar promoviert und stand irgendwann vor der Entscheidung, in die Pharma-Industrie zu gehen oder seinem Vater nachzufolgen. Er hat sich für die Apotheke entschieden. „In der pharmazeutischen Industrie wird zwar häufig besser bezahlt und man hat ein klar geregeltes Einkommen, aber ich wollte den persönlichen Kontakt zu den Menschen“, sagt er. Bereut habe er seine Entscheidung nicht. Auch wenn es Dinge gebe, die ihm den Alltag manchmal wirklich schwer machen würden.
Da sei zum Beispiel das Ärgernis Retaxation. Hinter dem sperrigen Fremdwort steckt eine Regelung, die es Krankenkassen ermöglicht, Apotheken nichts zu bezahlen, wenn bei der Rezept-Abrechnung ein Fehler gemacht wurde – und sei es nur eine Formalie, wie ein Buchstabendreher im Namen, der falsch übernommen wurde. Circa 20-mal im Monat komme das vor. „Da kann es mal um 87 Cent gehen, aber auch um ein Krebs-Medikament für viele tausend Euro“, sagt Kircher. „Sämtliche Kosten verbleiben dann bei der Apotheke, obwohl der Patient völlig ordnungsgemäß versorgt wurde und die Krankenkasse keinen finanziellen Schaden erlitten hat.“ Dabei ließe sich der triviale Formfehler auf dem Rezept eigentlich leicht korrigieren. Mit solchen Regelungen würde den Apotheken unnötig das Leben schwer gemacht, findet Kircher. Der Gesetzgeber müsse das und weitere Dinge ändern, um die Versorgung nicht noch mehr zu schwächen.
Die Fakten geben Kircher auf den ersten Blick recht. 2853 Apotheken gab es Ende März noch in Bayern. Allein in den ersten drei Monaten ist die Zahl dabei um 29 gesunken. Weniger waren es zuletzt 1980, beklagt der Bayerische Apothekenverband (BAV). Dessen Vorsitzender Hans-Peter Hubmann sieht den Grund für den Rückgang neben bürokratischen Erschwernissen vor allem in der Vergütung. Denn Apotheken erhalten pro rezeptpflichtiger Arzneimittelpackung ein gesetzlich festgelegtes Honorar. „Das wurde seit 2013 nicht angepasst“, sagt Hubmann. „Bei der Abgabe von Arzneimitteln an gesetzlich krankenversicherte Patienten wurde die Vergütung im Februar sogar gekürzt.“ Gleichzeitig seien Personal-, Betriebs- und Lebenshaltungskosten stark angestiegen. Der BAV fordert deshalb neben weiteren finanziellen Verbesserungen und Arbeitserleichterungen eine Erhöhung des festgelegten Honorars pro rezeptpflichtiger Arzneimittelpackung von 8,35 Euro auf 12 Euro. Zudem müsse der Wert künftig automatisiert an die Kostenentwicklung angepasst werden. Denn Apotheker können höhere Kosten nicht einfach an ihre Kunden weitergeben. Kircher formuliert es so: „Ich kenne in meinem Bekanntenkreis niemanden, der in den vergangenen zehn Jahren nicht ein Mal eine Gehaltserhöhung bekommen hat.“
Die Politik blickt mit gemischten Gefühlen auf den geplanten Protest. Zwar äußert Bayerns Gesundheitsminister Klaus Holetschek (CSU) grundsätzlich Verständnis für die Forderungen der Apotheken. Natürlich müssten auf Bundesebene die Rahmenbedingungen geschaffen werden, die es den Apotheken ermöglichen, auskömmlich zu arbeiten, sagt er unserer Zeitung. Holetschek stellt aber auch klar, „dass Aktionen der Apothekerschaft unter keinen Umständen die Versorgung der bayerischen Bevölkerung mit Arzneimitteln oder die grundsätzliche Versorgungssicherheit in Frage stellen dürfen – auch nicht nur vorübergehend.“
Hohe Einnahmen in der Pandemie
Karl Lauterbach, der SPD-Bundesgesundheitsminister in Berlin, will auf Anfrage hingegen selbst keinen Kommentar zu der Aktion abgeben. Sein Ministerium verweist darauf, dass die Apotheken in den vergangenen Jahren überdurchschnittlich verdient hätten. Allein 2021 sei der Umsatz um vier Prozent – rund 2,5 Milliarden Euro – angewachsen, was vor allem mit den Pandemie-Leistungen zusammenhänge. Schutzmasken, Covid-Zertifikate, Impfungen, Bürgertests – überall haben die Apotheken demnach mitverdient. Auch abseits von Corona hätten sich neue Verdienstmöglichkeiten – zum Beispiel bei Schutzimpfungen – eröffnet. Und der Absatz von Arzneimittelpackungen sei im vergangenen Jahr um etwa 9 Prozent auf 1,4 Milliarden gestiegen, laut Ministerium nicht zuletzt im Bereich der „over the counter“-Arzneimittel (apothekenpflichtige, rezeptfreie Arzneimittel).
Und auch, wenn die letzte Anpassung des sogenannten Fixzuschlags tatsächlich länger zurückliege, habe es in der Zwischenzeit eine Reihe von Maßnahmen gegeben, die das Apothekenhonorar angehoben haben. Nacht- und Notdienstpauschale, gesonderte Botendienstvergütung, eine Erhöhung der Vergütung bei der Abgabe von Betäubungsmitteln. „Zudem ist die Apothekenvergütung, anders als beim pharmazeutischen Großhandel, ungedeckelt, sodass über die Arzneimittelpreisverordnung steigende Arzneimittelpreise auch zu höheren Apothekeneinnahmen führen“, heißt es in einem Faktenpapier aus Lauterbachs Haus. Wird sich hier also womöglich auf hohem Niveau beklagt?
Ministerium sieht Versorgung gesichert
Dass er und seine Kollegen während der Corona-Krise angeblich so viel verdient hätten, sei ein Argument, das „gerne vorgeschoben“ werde, sagt Kircher. Aber das sei „ein einmaliger Effekt“ gewesen, „der durch Steuern, den Einkauf von Masken und Tests sowie die Weitergabe von möglichen Mehreinnahmen an die Mitarbeiter mittlerweile völlig verpufft“ sei. Und für die zusätzlichen Dienstleistungen, die sie mittlerweile erbringen dürfen, bräuchten die Apotheken ja wiederum zusätzliches Personal, das erstens teurer geworden und zweitens schwer zu finden sei. Eine massive Unterfinanzierung im Kerngeschäft lässt sich durch die pharmazeutischen Dienstleistungen nicht ausgleichen, sagt Kircher. Und ergänzt: „Wenn es den Apotheken wirklich so gut gehen würde, müsste in Deutschland nicht alle 20 Stunden eine weitere schließen.“
Ein Trend, der in Lauterbachs Haus aber bisher nicht für Panik sorgt. „Nach Auffassung des Bundesministeriums für Gesundheit ist die flächendeckende Versorgung mit Arzneimitteln derzeit gewährleistet“, heißt es. Kirchers Antwort: „Erzählen Sie das mal der älteren Dame aus dem 13 Kilometer von hier entfernten Rottenbuch, wo es keine Apotheke mehr gibt.“ Und der Ort sei nicht der einzige „weiße Fleck“ in der Umgebung. „Auf Dauer gerät die Arzneimittelversorgung so – insbesondere auf dem Land – in Schieflage.“
Dabei könnte es auch andersherum laufen, sagt er. „Wenn die Rahmenbedingungen besser wären, könnten wir noch viel stärker auf unsere Kunden eingehen und etwa viele der jährlich rund 250 000 vermeidbaren Krankenhauseinweisungen wegen Arznei-Wechselwirkungen verhindern.“