Komplett verwirrt nach der Operation

von Redaktion

VON DORITA PLANGE

München – Die Operation war gut verlaufen, der Genesung schien nichts mehr im Wege zu stehen. Dennoch benahm sich Herzpatient Julius T. (76, Name geändert) plötzlich seltsam: Er wirkte desorientiert, wollte fliehen, erkannte seine Familie nicht mehr. Delir oder Durchgangssyndrom heißt dieser psychische Ausnahmezustand.

Große Operationen mit langen Narkosen erhöhen das Risiko. So wie bei Julius T. Dabei hat der 76-Jährige viel medizinische Kompetenz in der Familie. Seine Schwiegertochter Dr. Barbara T. (Name geändert) ist Anästhesiologin und Oberärztin und mit den Formen eines Delirs vertraut: „Aber wenn man das bei Angehörigen erlebt, ist alles anders“, sagt die 38-Jährige.

Ihr Schwiegervater überstand vor zehn Jahren zwei Herzoperationen: „Das waren traumatische Ereignisse für ihn.“ Im Jahr 2021 – mitten in der Corona-Pandemie – war er einige Tage in der Klinik für eine Routine-Untersuchung. „Wir haben schnell gemerkt, das etwas anders war“, erzählt die Schwiegertochter. „Sein Blick war plötzlich leer, seine Stimme monoton. Er nestelte sinnlos an allem herum, wirkte fahrig, suchte ständig sein Handy. Das wurde von Tag zu Tag schlimmer.“ Der kurze Klinikaufenthalt allein hatte bereits genügt, um ihn total aus der Fassung zu bringen.

Im vergangenen Winter musste Julius T. erneut in die Klinik. Der Tausch einer Herzklappe war unaufschiebbar geworden. Die Operation wurde für Freitag, 13. Januar, in der München Klinik Bogenhausen angesetzt. Seine Frau blieb sechs Wochen lang Tag und Nacht bei ihm: „Andernfalls hätte er das wohl nicht überlebt,“ meint Barbara T.

Weil er bereits Delir-Patient war, ersetzten die Ärzte die Vollnarkose durch kurze Sedierungen und vermieden Medikamente wie Propofol und Benzodiazepine, die als Triggerfaktoren gelten. Im Operationssaal durfte er Schlager hören – seine Lieblingsmusik. „Und doch war mein Schwiegervater nach dem Eingriff komplett verwirrt“, sagt Ärztin Barbara T. Julius erkannte seine Angehörigen nicht mehr, wollte sich alle Kabel und Zugänge abreißen. Der Versuch, ihn auf die Normalstation zu verlegen, eskalierte. „Er lief schreiend über die Station, das ganze Team und die Familie im Schlepptau.“ Erinnerungen an seine schwere Kinderzeit als Besatzungskind übermannten ihn: „Er weinte viel, wollte seine Schwester sehen und wiederholte gebetsmühlenartig sein Hochzeitsdatum: 1. 9. 1956. Wir waren an einem Punkt, wo wir überlegten, ob er überhaupt nach Hause zurückkehren kann. Es war erschütternd.“

Fünf Tage nach der Herzklappen-Operation durfte Julius T. wieder heim. Als er aus dem Auto stieg, sah sich seine Frau unsicher um: „Schauen die Nachbarn?“ Beim Abendessen mit den Kindern und Enkeln ließ sie den Rollladen herunter: „Weil er sich beim Essen öfter mal auszog und mit freiem Oberkörper da saß.“ Seiner Frau war das peinlich. „Aber unsere Kinder fanden das lustig. Für sie war das kein Tabu.“

Ein Delir tritt viel häufiger auf, als der Laie denkt. „Das Delir trifft jeden dritten Intensiv-Patienten über 60 Jahre. In Deutschland könnten es jährlich rund eine Million Patienten sein“, erklärt Professor Dr. Patrick Friederich, Chefarzt der Klinik für Anästhesiologie, Operative Intensivmedizin und Schmerztherapie in der München Klinik Bogenhausen.

Ein Delir ist zwar behandelbar und bildet sich in vielen Fällen komplett zurück. Aber eben nicht immer. Laut Friederich bleibt jedem vierten Betroffenen eine mehr oder minder schwere kognitive Beeinträchtigung. Um ein Delir möglichst gleich zu vermeiden, entsteht unter seiner Leitung in der Klinik Bogenhausen zurzeit ein völlig neues Delir-Konzept (siehe Text unten).

Bei Julius T. dauerte es nach seiner Heimkehr sieben Wochen, bis er mithilfe seiner Familie den Weg zurück in sein Leben fand – und der dreijährige Enkel Anfang März offiziell verkündete: „Opa ist wieder normal!“ Der Bruder hat sogar einen Brief an die Ärzte geschrieben: „Vielen Dank, Ihr habt mir meinen Opa wiedergebracht. Er spasselt wieder mit uns.“ Der Rollladen bleibt beim Essen wieder oben.

Barbara T. hat selbst erfahren, was ein Delir für eine Familie bedeutet: „Es motiviert mich aber auch, weil ich sehe: Die Erfolge sind da. Was wir hier tun, ist richtig und wichtig.“ Prof. Friederich denkt noch weiter: „Das große Glück einer intakten Familie haben viele nicht. Wir müssen uns daher auch Gedanken machen um Alleinstehende oder Senioren ganz ohne sozialen Anschluss. Auch das gehört ins große Fach der Anästhesiologen.“

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