München – Professor Dr. Patrick Friederich ist Chefarzt der Klinik für Anästhesiologie, Operative Intensivmedizin und Schmerztherapie in der München Klinik Bogenhausen. Das Durchgangssyndrom (Delir) ist eines seiner Spezialgebiete. Unter seiner Leitung entsteht in Bogenhausen ein ganz neues Konzept, um das Syndrom möglichst zu verhindern oder im Anfangsstadium abzufedern.
Die Symptome
Angehörige bemerken die Veränderung oft zuerst: Absolut zugängliche Patienten werden plötzlich unruhig, weinen, wollen sofort gehen. Manche werden hochaggressiv: Sie greifen das Pflegepersonal an, werfen Geschirr, schreien, reißen Verbände und Kanülen ab. „Das kann schwere bis tödliche Komplikationen nach sich ziehen“, warnt Professor Patrick Friederich. Und die Angehörigen stehen verstört daneben: „Alles passiert unter Ausschluss der Öffentlichkeit. Selbst innerhalb der Familien wird das verschwiegen. Die negative soziale Belegung des Delirs ist einfach schrecklich.“
Nicht minder gefährlich ist die Apathie: „Diese Menschen erstarren regelrecht. Das fällt ungeschultem Personal nicht auf. Denn das sind angenehme Patienten, die keinen Ärger machen.“ Tatsächlich sind sie in großer Not, ihren Ängsten völlig ausgeliefert. Ein grauenhafter Zustand, der bis ans Lebensende andauern kann. 25 Prozent der Betroffenen behalten eine kognitive Funktionsstörung zurück, vergleichbar mit einer milden Demenz. Prof. Friederich: „Sie kennen doch den Spruch: Nach der OP war unser Opa nie wieder der Alte. Heute wissen wir, dass da ein unerkanntes Delir dahinterstecken kann.“
Die Ursachen
Als Auslöser gelten unter anderem Fieber, Infektionen, bestehende Demenz, Diabetes, Schmerzen, Hormonstörungen, Suchtprobleme, Narkotika, neue Medikamente oder auch der Medikamenten-Entzug. Alle diese Faktoren haben Auswirkungen auf das zentrale Nervensystem und den Stoffwechsel des Gehirns.
Die Scham ist groß
Den Begriff Delir verwechseln viele mit dem Endstadium der Alkoholsucht – einer der Gründe, warum dieses Thema extrem schambesetzt ist: „Das eine hat mit dem anderen absolut nichts zu tun“, stellt Prof. Friederich klar. „Viele Delir-Patienten schämen sich später sehr für ihr Verhalten. Dafür gibt es keinen Grund, denn sie können doch gar nichts dafür.“ Das Team der Anästhesiologie in der München Klinik Bogenhausen hat jedes Verständnis: „Klinikpatienten finden sich in einer sterilen, geradezu feindlich wirkenden Umgebung mit völlig unnatürlichen Strukturen wieder. Sie werden – das ist nun mal unsere Aufgabe – in ihrer körperlichen Integrität verletzt. Sie bekommen viele Medikamente bzw. eine Narkose, um das alles ertragen zu können.“ Wenn Risikofaktoren wie hohes Alter, Vorerkrankungen, Angst und ein Aufenthalt auf der Intensivstation hinzukommen, „ist die Gefahr groß, dass ein Delir eintritt“. Ältere Menschen trifft es eher als die Jüngeren. Auf der Intensivstation in Bogenhausen werden jährlich 1200 bis 1500 Menschen behandelt. Etwa jeder Dritte erleidet ein Delir. „Das ist ein riesengroßes Thema, das in der Außenwahrnehmung komplett unterschätzt wird!“
Zukunftspläne
Voraussichtlich 2024 zieht die Anästhesiologie und Intensivmedizin der München Klinik Bogenhausen in den Neubau auf dem Klinikgelände um. Prof. Friederich – zusätzlich Gutachter der Initiative Qualitätsmedizin für Krankenhäuser in Deutschland und der Schweiz – erarbeitete mit seinen Mitarbeitern ein neues ganzheitliches Konzept zur Prävention bzw. Früherkennung des Delirs, das in der Bogenhausener Anästhesiologie heute bereits umgesetzt wird.
Die pinke Box
Wie fühlt sich ein Mensch, dem vor der OP nicht nur Brille und Handy, sondern auch Hörgerät, Gebiss, Maskottchen und die Bilder der Liebsten auf unbestimmte Zeit abgenommen werden? „Schlimm. Nicht mehr zeitgemäß“, sagt Prof. Friederich. „Jegliche Orientierung, Verständigung und vertrauter Trost wird ihm genommen.“ In Bogenhausen wird das geliebte Sammelsurium in einer pinkfarbenen Box verstaut, die der Patient beim Aufwachen unverzüglich zurückbekommt.
Orientierung & Check
Im Aufwachraum hängen große, gut lesbare Uhren mit Datum, Wochentag und Tageszeit. „Denn im Neonlicht großer, fensterloser Räume verlieren Menschen jede zeitliche Orientierung. Auch ein Faktor, der Patienten verwirrt und das Delir begünstigt.“ Jeder Intensiv-Patient wird zudem dreimal täglich mit standardisierten Untersuchungen auf erste Anzeichen eines Delirs überprüft.
Musik im OP
Im Vorgespräch mit Patienten und Angehörigen wird geklärt, ob Delir schon mal ein Thema war oder werden könnte. „Denn wir sind heute in vielen Fällen technisch in der Lage, Auslöser wie Vollnarkosen oder bestimmte Medikamente zu umgehen.“ Am Tag der OP dreht sich alles darum, den Patienten Mut zu machen, sie zum Lächeln zu bringen, mit der Wunschmusik abzulenken oder mit schönen Urlaubserinnerungen einschlafen zu lassen. „Die Anästhesiologie ist das letzte große Fach, das den ganzen Menschen betrachtet. Anästhesiologen, Intensivmediziner, das Pflegepersonal und die Physiotherapeuten sind nur stark im Team.“
Licht und Lärm
Der gewohnte Tag-Nacht-Rhythmus und damit die Regulation der Gehirnfunktionen geraten auf einer Intensivstation rasch durcheinander. Immer herrscht Unruhe, brennt Licht. Eine Erkenntnis, der im Neubau zusätzlich in Form eines neuen, heilungsfördernden Lichtsystems mit individuellem Tag- und Nachtrhythmus für jeden Intensiv-Patienten begegnet werden soll. Aber: Dieses Lichtsystem kostet 300 000 Euro und wird im Gesundheitssystem nicht finanziert. 180 000 Euro fehlen laut Friederich noch an Mitteln. Daher sammelt er Spenden. dp
Wer helfen will:
Spendenkonto: München Klinik gGmbH; Bank für Sozialwirtschaft; IBAN: DE58 3702 0500 0009 8440 06; Verwendungszweck: Delirprojekt Neues Bogenhausen.