München – Der Ukraine-Krieg weckt in Dr. Michael J. Kindl Erinnerungen. Aufgewachsen auf dem Hof seiner Großeltern in der Oberpfalz, hat der heute 75-Jährige als kleiner Bub das Leid von Flüchtlingsfamilien kennengelernt, die nach dem Zweiten Weltkrieg auf dem Hof untergebracht wurden. Und er musste wie viele andere Kinder seiner Generation ohne Vater groß werden, der als Mitglied der Luftwaffe seinen schweren Kriegsverletzungen erlag. Heute arbeitet Kindl als Psychologischer Psychotherapeut und Psychoanalytiker in München und ist immer noch mit der Thematik befasst. Denn viele seiner Patienten, sagt er, seien Menschen mit Kriegs-, Vertreibungs- und Exilerfahrung. In einem Gastbeitrag für unsere Zeitung erklärt er, warum der Krieg in der Ukraine nicht vorbei sein wird, nur weil keine Bomben mehr fallen – und kritisiert die aus seiner Sicht zunehmende Empathielosigkeit in Deutschland gegenüber den ukrainischen Opfern.
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„Wenn der Krieg zu Ende ist, werden wir hoffentlich auf dem Maidan in Kiew ein Friedenskonzert geben“, äußerte Klaus Meine, Frontmann der Scorpions, vor einiger Zeit in einem Interview. Aber wann ist ein Krieg wie diese barbarische und völkerrechtswidrige „Spezialoperation“ Russlands gegen das ukrainische „Brudervolk“ wirklich zu Ende? Ja, endet er überhaupt jemals?
Der Krieg dauert so lange, bis keiner mehr unter den Folgen und den Folgen der Folgen leiden muss, bis die Erinnerung an das menschliche Elend und die unsagbaren Gräuel im kollektiven Gedächtnis der Ukrainer nicht mehr auftaucht. Und das ist wohl eher eine Ewigkeit. Da sind zigtausende gefallene, verwundete, verkrüppelte, gefolterte, traumatisierte Soldaten, die ihr Heimatland zu schützen versucht haben. Von ihren Kindern wachsen viele auf ohne die Obhut, die Sicherheit, die Rückendeckung und das Vorbild des Vaters. Die Ukraine wird – wie Deutschland nach dem Zweiten Weltkrieg – in Teilen zu einer vaterlosen Gesellschaft werden. Der schmerzliche Verlust, den die Kinder für sich selbst subjektiv unbewusst oder unerklärbar erleiden, ist durch nichts mehr zu kompensieren. Es bleiben meist im individuellen Unbewussten agierende transgenerationale Belastungen in der Ich- und Identitätsentwicklung als psychische Blockaden und Beziehungsdefizite für die folgenden Generationen der Waisen und Halbwaisen bestehen.
Millionen, deren Stadt oder Dorf, deren Haus oder Wohnung, deren soziales Umfeld zerbombt, zerstört und bis auf die Grundfeste dem Erdboden gleichgemacht wurden, suchen Zuflucht und Aufnahme als Kriegsflüchtlinge in Europa oder den nicht vom Krieg heimgesuchten Landstrichen des Vaterlandes. Familiäre, soziale Strukturen und Bindungen zerreißen, wenn sich Angehörige und Nahestehende in jeweils andere Richtungen Europas auf den Weg machen und sich nicht selten in den Aufnahmegesellschaften auf Dauer integrieren. Ihr Leben ist dann eines im Exil, das eines Migranten und Menschen, der als „Fremder“ lange nicht wirklich dazugehören wird. Die Mütter und Väter der gefallenen Söhne und ermordeten Töchter werden, wenn sie alt und gebrechlich sind, nicht mehr auf die Unterstützung ihrer Nachkommen bauen können. Ungezählte junge Männer müssen als Kriegsversehrte ihre Lebensträume begraben. Sie bleiben bis zu ihrem Tod von medizinischen und psychologischen Behandlungen sowie sozialer Unterstützung abhängig. Werden ihnen die nachfolgenden Generationen den Einsatz für die Sicherung der Freiheit und die Fortexistenz des ukrainischen Volkes und seiner Kultur danken?
Der Westen hat Putins Psyche nie verstanden
Millionen von Lebensplänen zerschellen an Bomben, Raketen, Panzern und Drohnen. Hunderttausende Minen werden spielenden Kindern noch lange nach den Kriegshandlungen Arme oder Beine wegreißen. Hoffnungsvolle und zukunftsorientierte junge Liebespaare verlieren ihre gemeinsame Zukunft, bleiben mit nicht mehr zu beantwortenden Fragen zurück. Von feindlichen Soldaten missbrauchte Frauen werden teilweise unwiederbringlich ihre Liebesfähigkeit verloren haben, alleine bleiben oder auf ein erfüllendes intimes Beziehungs- und Glückserleben verzichten müssen. Die über Jahrhunderte entstandenen Lebenswerke von Millionen verantwortungsvoller und kreativer Menschen wie Baumeistern, Ingenieuren, Künstlern, Wissenschaftlern, Forschern, Handwerkern und Arbeitern werden oft in Sekunden von einem einzigen Massenmörder und seinen Schergen in Staub verwandelt: Welch primitiver Zivilisationsbruch.
All dies vollzieht sich gerade in der Ukraine und auf Befehl eines Möchtegern-Zaren. Der politische Westen hat diese intrapsychische Dynamik des ehemaligen KGB-Agenten in Ermangelung psychoanalytischer Betrachtungsweisen nie verstanden. Er ist ihm in naivster und desaströser Weise auf den Leim gegangen.
Wohl ebenfalls zehntausende ukrainische Kinder wachsen verschleppt und deportiert als Garant für russifizierten Nachwuchs und Kriegsbeute in russischen Heimen auf. Der Raub unschuldiger Kinder als Kriegswaffe: welch perverse Brutalität. Und wer denkt an die Traumata jener Männer, die tagtäglich die sterblichen Überreste von Soldaten und massakrierten Zivilisten in Suchtrupps erkunden, aufsammeln, identifizieren, dokumentieren und transportieren? Wem sind die Traumata all jener bewusst, die unaufhörlich Gräber ausheben, um den Kriegstoten ein halbwegs würdiges Begräbnis und den Angehörigen einen Ort zum Trauern und Abschiednehmen zu ermöglichen? Was wird aus der zerstörten Natur und der vergifteten Umwelt, der lebenswichtigen Infrastruktur und den toxisch kontaminierten Böden? Welchen Schaden nehmen die Wasserspeicher und die natürlichen Gewässer? Die Bauern generieren keinen Erlös mehr aus der Produktion und der harten Arbeit in der Landwirtschaft.
Einem nicht unwesentlichen Teil der deutschen Bevölkerung scheint in den letzten Jahrzehnten das politisch-ethische Urteilsvermögen abhandengekommen zu sein. Sie können nicht mehr zwischen Demokratie und Diktatur, Aggressor und Angegriffenen, zwischen Täter und Opfer, zwischen biophilem Weltbezug (der Liebe zum Leben und zum Lebendigen) und nekrophiler Lebenshaltung (der Faszination des Tötens, Zerstörens und Vernichtens) differenzieren. Es fehlt ihnen ein ethisch relevantes Orientierungssystem.
Die Umkehrung von Ursache und Wirkung, von Recht und Unrecht findet bei „Fake-News-Gläubigen“ ungeahnten Zuspruch. Ein freies, souveränes und vom Unabhängigkeits- und Freiheitswillen erfasstes und geprägtes Volk soll territorial, als Nation, Kultur, als Staat in seiner Identität, mit seiner Geschichte und seinem kollektiven Bewussten vernichtet werden, weil ein russischer Emporkömmling den Zerfall der Sowjetunion mit ihren unterjochten Kolonialstaaten angeblich nicht ertragen kann. Als ein von Stalin’scher Willkür in der Zeit des Holodomor (1932–33 mit fünf Millionen Hungertoten) und von Hitlers Weltkrieg (acht Millionen Kriegstote) in besonderer Weise betroffenes Volk hat die Ukraine eine Leidensgeschichte wie kaum eine andere europäische Gesellschaft der Neuzeit durchlebt.
Eine erschütternde Empathielosigkeit
Wie müssen Menschen wie die Verfasserinnen des so genannten „Friedensappells“ Sahra Wagenknecht oder die Frauenrechtlerin Alice Schwarzer psychisch strukturiert sein, wenn sie klammheimliches oder sogar offen formuliertes Verständnis für die russische „Spezialoperation“ aufbringen? Was meint denn Frau Schwarzer, wenn sie artikuliert: Beide Kriegsparteien sollten Zugeständnisse und Kompromisse eingehen? Heruntergebrochen auf eine interindividuelle Ebene würde die Frage lauten: Welche Zugeständnisse und Kompromisse könnte ein gerade vergewaltigtes Opfer einem Massenmörder anbieten? Welches Entgegenkommen wäre vom Täter zu erwarten? Meint Frau Schwarzer, es wäre schon ein Verhandlungserfolg, wenn der Täter sein Opfer nach dem Missbrauch noch eine Weile am Leben lassen würde? Eine derart erschütternde Empathielosigkeit hätte man einer sogenannten Feministin nicht zugetraut.
Lieber Klaus Meine, warten Sie nicht, bis der Krieg „zu Ende“ ist. Singen Sie auf Ihrem geplanten Mega-Konzert die modifizierte Version Ihres „Wind of Change“ auf dem Maidan, sobald, aus welchen Gründen auch immer, die Waffen schweigen. Kein Volk hat es so verdient wie das der Ukraine.
DR. MICHAEL J. KINDL