Die vergessene Revolte

von Redaktion

VON DIRK WALTER

München/Berlin – Bei einer Konferenz der Grünen-Bundestagsfraktion vergangene Woche in Berlin machte der Historiker Ilko-Sascha Kowalczuk, ein ausgewiesener Kenner der DDR-Geschichte, seinem Frust über die Missachtung des Aufstands Luft. Der französische Literat Albert Camus, sagte Kowalczuk, sei 1953 einer der wenigen westeuropäischen Intellektuellen gewesen, „die sich mit den Aufständischen solidarisiert“ hätten. Diese Missachtung spreche Bände. Zwar sei in der Bundesrepublik noch 1953 – auf Initiative der SPD – beschlossen worden, den 17. Juni als Feiertag zu begehen. Doch das sei 1990 wieder abgeschafft worden – der „Tag der deutschen Einheit“ hatte ja offenkundig seinen Zweck erfüllt. Heute jedoch werde die DDR „immer mehr verzeichnet“, es gelte, „Verharmlosungstendenzen“ entgegenzutreten.

Tatsächlich wissen junge Leute heute nur noch wenig über den Aufstand. In einer Forsa-Umfrage im Auftrag der Bundesstiftung Aufarbeitung der SED-Diktatur konnte nur jeder siebte 14- bis 29-Jährige spontan etwas mit dem Datum anfangen. Worauf der Historiker wohl auch anspielte, ist ein aktueller Bestseller: Die Historikerin Katja Hoyer, selbst aufgewachsen in Brandenburg, erzählt in „Diesseits der Mauer“ von jenen DDR-Bürgern, die nicht aufbegehrten, sondern sich arrangierten. Die also die DDR nicht, jedenfalls nicht nur, als Diktatur wahrnahmen, sondern als Land, das Stabilität und Heimat bot. War das die Mehrheit?

Der 17. Juni 1953 jedenfalls widerspricht diesem Bild fundamental: Damals demonstrierten annähernd eine Million Menschen (bei einer Gesamtbevölkerung von 17 bis 18 Millionen) gegen die SED-Herrscher. In über 700 Städten und Gemeinden brach der Aufstand los, bilanzierte Kowalczuk bei der Konferenz in Berlin. 250 öffentliche Gebäude wurden erstürmt, 1400 Häftlinge – zumeist wegen Nichtigkeiten eingesperrt – befreit. Es gab 55 Tote, zumeist nach Unfällen mit sowjetischen Panzern, die nun auf den Straßen vorrückten und zur Warnung in die Luft schossen. Mehr als 10 000 Personen wurden verhaftet, 2300 bis 2500 verurteilt, mindestens fünf Aufrührer wurden hingerichtet. Die letzten Demonstranten kamen erst 1964 aus dem Gefängnis frei.

Kowalczuk spricht von einem „führerlosen Volksaufstand“, denn es gab keine Ikone, keinen Robespierre wie bei der Französischen Revolution 1789, keinen Kurt Eisner wie während der Revolution in Bayern 1918, der die Massen gelenkt und verführt hätte. So fehlte wohl, abgesehen von plakativen Forderungen etwa nach „freien Wahlen“ und dem Rücktritt der Regierung („Von Ulbricht, Pieck und Grotewohl haben wir die Schnauze voll“), auch ein übergeordnetes politisches Programm.

Seine Vorgeschichte hatte der Aufstand in der 2. Parteikonferenz der SED im Juli 1952, als die DDR unter Walter Ulbricht zu einer Politik des „verschärften Klassenkampfes“ überging, verstärkt Betriebe kollektivierte, Hausbesitzer und Privatunternehmer drangsalierte und einen „Kirchenkampf“ gegen evangelische Geistliche vom Zaun brach – das alles unter der Maßgabe, so den Aufbau des Sozialismus zu forcieren. In der Folge stiegen die Preise exorbitant. Der Durchschnittsverdienst in der DDR betrug 1953 genau 308 Mark, ein Kilo Butter kostete indes 20 Mark. Das „Sparsamkeitsregime“ (Kowalczuk) der DDR hätte wohl zu Hungeraufständen führen können, wenn nicht im März 1953 Stalin gestorben wäre und in der Sowjetunion ein zarter politischer Frühling begonnen hätte.

Weil Ulbrichts Zirkel sich dem nicht anschloss, wurden die Funktionäre Anfang Juni 1953 nach Moskau zitiert und ihnen Lockerungen diktiert, die die SED „ohne jegliche propagandistische Vorbereitung“ (so der Historiker Udo Wengst) dann nachvollzog. Es begann der sogenannte neue Kurs: Unter anderem wurde der „Kirchenkampf“ eingestellt, politische Gefangene kamen frei. Ironie der Geschichte: Diese Zugeständnisse, so sieht es jedenfalls Kowalczuk, nahm die Bevölkerung in weiten Teilen nicht als „Fehlereingeständnis, sondern als Bankrotterklärung“ wahr. Sie forderte weitere Lockerungen. Weil nun aber die DDR-Führung an einer Erhöhung von Arbeitsnormen um zehn Prozent festhielt, gingen Bauarbeiter in Ostberlin auf die Straße und zogen am 17. Juni zum Sitz von Ministerpräsident Otto Grotewohl. Der weigerte sich, mit den Demonstranten auch nur zu sprechen.

Daraufhin brach der Sturm los: Generalstreik, erst in Berlin, rasch in weiteren Städten. Binnen Stunden sprach sich der Protest in Berlin wohl im ganzen Land herum. Es sind die Zeitzeugen, die die Wucht dieser Massenproteste plastisch machen. Günter Toepfer etwa erinnert sich 70 Jahre später noch glasklar an die Kinderperspektive von damals. Gegen 9 Uhr an diesem Mittwochvormittag kam der Rektor seiner Schule in Jena in die Klasse und schickte die Schüler nach Hause. Toepfer, damals knapp zwölf Jahre alt, ahnte, dass etwas los war. Statt nach Hause lief der Junge in die Innenstadt und geriet mitten hinein in den Aufstand. 20 000 Menschen auf dem Holzmarkt, dazwischen sowjetische Panzer. Die Masse quetschte den Jungen gegen eine der Kriegsmaschinen. „Da fühlt man sich schon sehr schlecht, wenn man vor einem solchen Ungetüm steht“, erzählte der heute über 80-Jährige bei einer Veranstaltung der Bundesstiftung Aufarbeitung in Berlin.

Als beim Sturm auf die Zentralen der Freien Deutschen Jugend und des Freien Deutschen Gewerkschaftsbunds kiloweise Akten und Propagandaschriften auf die Straße flogen, witterte der Knirps das Geschäft seines Lebens. Er sammelte fleißig, um das Altpapier zu verhökern. Doch ihm wurde mulmig: Stattdessen verbrannte er sie zu Hause im Badeofen.

Eine andere Szene von damals: Aus einem Fenster der Jenaer Gewerkschaftszentrale warf jemand ein Bild Stalins vor die Füße des Schuljungen. „Hatte ich ein Glück, dass Stalin nicht mir über die Birne flog“, flachst Toepfer. Dann sah er eine Frau, die wie von Sinnen auf dem Stalin-Bild herumtrampelte.

Selbst in der Bundesrepublik war man überrascht über die Wucht des Aufstands – der Bundesnachrichtendienst in Pullach, damals noch als „Organisation Gehlen“ bezeichnet, versagte. „Im Fazit wurde der Dienst hier kalt erwischt und tat sich äußerst schwer bzw. war faktisch nicht in der Lage, diesen Aufstand vorherzusehen“, sagt Michael von Trintelen vom historischen Büro des BND. Selbst Bundeskanzler Konrad Adenauer soll noch Mitte des Tages gesagt haben, dass das wahrscheinlich eine von den Russen inszenierte Demonstration sei und er sich da lieber nicht einmischen wolle.

Als Ikone ins Gedächtnis eingebrannt hat sich heute vor allem ein Foto: Zwei junge Männer werfen mit Pflastersteinen in Ostberlin auf einen sowjetischen Panzer. Als das Bild entstand, schrieb der Historiker Hubertus Knabe kürzlich in der „FAZ“, war der Aufstand schon fast zu Ende. „In der Szene ist die Niederlage des Aufstands bereits angelegt.“ Doch in den Stunden davor dominierten andere Szenen die Straßen: Bilder von lachenden, jubelnden Menschen. Vor allem die Befreiungsaktionen aus den Gefängnissen gerieten zu Feierstunden.

Die Haftanstalten standen wie steinerne Denkmäler für die ganze Ungerechtigkeit des Regimes. In Brandenburg, erzählte Kowalczuk bei der Konferenz, waren anfangs sechs Angehörige eines inhaftierten Fuhrunternehmers vor das Gefängnis gezogen. Stunden später waren es schon 5000, die die Freilassung verlangten. Tatsächlich ließ der Gefängnisdirektor den Gefangenen frei, der daraufhin auf den Schultern jubelnd durch die Straßen getragen wurde.

Auch oft vernachlässigt wird die große Beteiligung der Frauen am Aufstand. Gewiss: Frauen waren im SED-Regime auch Täterinnen – Aufseherinnen, Funktionärinnen. 1949 legte die Verfassung der DDR die Gleichberechtigung der Frauen und das Recht auf Arbeit gesetzlich fest, 1953 arbeiteten in der DDR über 50 Prozent der Frauen in Betrieben. Sie hatten also unter Normerhöhungen genauso zu leiden – und so war es kein Wunder, dass sich wie in der Waggonbaufabrik in Ammendorf bei Halle eine Putzfrau im Sommerkleid vor die Werktätigen stellte und eine aufrührerische Rede hielt „Wenn es mal Brote gibt“, klagte die Frau, „dann nur schlechte. Ich verlange aber besseres Brot.“ Daher müssten sich alle dem Streik anschließen.

Doch gegen das überall in der DDR aufziehende sowjetische Militär hatten die unbewaffneten Aufständischen keine Chance. „Es reichte oft aus, dass sich die sowjetische Armee einfach zeigte“, sagte der Historiker Kowalczuk. Das schüchterte die Menschen ein. Dass sie wie auf der Berliner Stalinallee mit Steinen die Panzer attackierten, war selten. „Dieser Aufstand hatte keine Chance, erfolgreich zu sein.“

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