Russlands mächtigster Mann ist angezählt

von Redaktion

VON WOLFGANG HAUSKRECHT MIT DPA & AFP

Moskau/München – Der Kreml traut dem Frieden offenbar noch nicht. Auch wenn Prigoschin den Marsch auf Moskau am Samstagabend überraschend für beendet erklärt hat, galt in Moskau am Sonntag noch offiziell der Anti-Terror-Notstand. Staatliche Einrichtungen stehen unter besonderem Schutz. Am Autobahnring wurde eilig ein Kontrollpunkt mit Schützenpanzern eingerichtet, der Verkehr zwischen Moskau und Rostow war auch am Sonntag eingeschränkt. Rund um den Kreml sind zwar die Panzer verschwunden, doch überall patrouillieren schwer bewaffnete Soldaten. Der Schock sitzt noch tief.

Lukaschenko stimmt Prigoschin um

Noch am Samstagnachmittag sah die Lage bedrohlich aus. Die Privatarmee von Jewgeni Prigoschin hatte die Grenze am Don überschritten, war in Rostow einmarschiert, hatte Woronesch hinter sich gelassen und stand offenbar nur noch 200 Kilometer vor Moskau. Um 20.15 Uhr dann die Eilnachricht – aus Belarus. Dessen Machthaber Alexander Lukaschenko verkündete, Prigoschin zur Aufgabe bewegt zu haben. Wenig später die Bestätigung des Wagner-Chefs: „Unsere Kolonnen drehen um und gehen in die entgegengesetzte Richtung in die Feldlager zurück.“ Um 23 Uhr teilte der Kreml mit, gegen Prigoschin werde nicht weiter ermittelt. Zuvor hatte er den „Verräter“ noch zum Abschuss freigegeben. Prigoschin werde ins Exil nach Belarus gehen, hieß es. Auch die Wagner-Söldner sollen straffrei bleiben und nun in die Armee eingegliedert werden.

Am Sonntag setzten die Söldner ihren Abzug fort. In Woronesch hatte die Armee mit Hubschrauber-Angriffen versucht, den Aufstand zu stoppen, wobei ein großes Tanklager in Flammen aufging. Der Brand konnte erst in der Nacht auf Sonntag gelöscht werden.

Was genau Prigoschin erreichen wollte, ist noch rätselhaft. Wollte er Putin stürzen und gab den Plan auf, weil ihm Verbündete kurzfristig von der Fahne gingen? Oder wollte er sich Gehör verschaffen und die Entlassung von Verteidigungsminister Sergej Schoigu erreichen?

Seit Monaten schon prallen die kritischen Tiraden Prigoschins wegen der Kriegsführung in der Ukraine an den Kreml-Mauern ab. Der Wagner-Chef macht Schoigu und Generalstabschef Waleri Gerassimow für Missstände beim Militär und den Tod von mehr als 10 000 Wagner-Söldnern verantwortlich. Konkreter Auslöser des Aufstands war Prigoschins Vorwurf, das Verteidigungsministerium habe einen Angriff auf eine Wagner-Stellung befohlen. Das Ministerium wies das zurück. Der mit einer vollwertigen Armee samt Panzern und Flugzeugen ausgestattete Prigoschin war auch erbost, dass Schoigu seine Söldner bis zum 1. Juli in die reguläre Armee eingliedern wollte. Der Wagner-Chef weigerte sich.

Auch wenn Prigoschin sich nie offen gegen Putin selbst stellte, gilt Russlands Präsident als angeschlagen. Schon am Samstag wunderten sich Beobachter, warum Putin die Wagner-Söldner fast ungehindert gen Moskau ziehen ließ. Reichen die militärischen Ressourcen im Inland nicht mehr aus? Auch dass Lukaschenko, der eigentlich als Marionette Putins gilt, den Deal vermittelte, kratzt an der Aura des Präsidenten.

Viele Russen fühlen sich nicht mehr sicher

Bereits seitdem die russische Grenzregion Belgorod vom Gebiet der Ukraine immer wieder angegriffen und schwer beschossen wird, ist klar, dass Putins Gewaltmonopol erodiert. Viele Russen sehen sich nicht mehr ausreichend geschützt. Die Sicherheitsfragen griff auch Prigoschin immer wieder auf, weshalb seine Popularitätswerte in die Höhe schnellten.

Was bleibt, ist aus Sicht der Politologin Tatjana Stanowaja eine weitere Erosion der Macht Putins. „Das ist eine gewaltige Niederlage für ihn“, schrieb sie bei Telegram. Prigoschin sei unterschätzt worden. Trotzdem habe er keine Verbündeten in der Elite oder eine echte Chance, die Macht an sich zu reißen. Putins Ressourcen seien weiter gewaltig.

Der Politologe Abbas Galljamow schrieb am Sonntag in seinem Blog. Prigoschin habe keinen Zugang mehr zum Präsidenten gehabt. Deshalb sei er an die Öffentlichkeit gegangen. Ob Putin Konsequenzen zieht, ist offen. „Man darf kein hochzentralistisches System bilden und sich dann völlig von der Außenwelt abschotten“, so Galljamow. Der Kremlchef steht im Ruf, resistent gegen Beratung zu sein und den Kontakt zur Wirklichkeit verloren zu haben.

Söldner schießen Hubschrauber ab

Die westliche Welt hielt sich mit Kommentaren auch am Sonntag zurück. In den meisten Erklärungen hieß es lediglich, man beobachte die Situation. US-Außenminister Antony Blinken sagte, der Aufstand werfe „eindeutig neue Fragen auf, mit denen Putin umgehen“ müsse. US-Medienberichten zufolge gab es seit Längerem Hinweise auf einen Aufstand. Laut der „Washington Post“ erhielten die US-Geheimdienste Mitte Juni Informationen, dass Prigoschin eine bewaffnete Aktion gegen die Militärführung plane. Darüber sei auch das Weiße Haus informiert worden, hieß es unter Berufung auf nicht namentlich genannte Quellen.

Weitgehend unklar blieb das Ausmaß der Kämpfe im Zuge des Aufstands. Nach Angaben prorussischer Militärblogger kamen mehrere Piloten der russischen Luftwaffe ums Leben. Die Angaben zur Zahl der Todesopfer schwankten zwischen 13 und mehr als 20 Soldaten, wie das unabhängige Internetportal currenttime berichtete. Insgesamt seien von Wagner sechs Hubschrauber und ein Aufklärungsflugzeug abgeschossen worden. Offiziell bestätigt ist das nicht.

Prigoschin selbst soll nun weg aus Russland und sich im Nachbarland Belarus niederlassen. Von dem 62-Jährigen war am Sonntag allerdings überhaupt nichts mehr zu hören und zu sehen.

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