„Ich war die Sklavin meiner Zwänge“

von Redaktion

VON DORITA PLANGE

München – Schon als kleines Mädchen spitzte Melanie ihre Buntstifte täglich perfekt und sortierte sie nach Farben. Auch die Kleiderbügel mussten abends in genau gleichen Abständen im Schrank hängen: „Sonst hätte ich keine Ruhe gefunden.“ Die Erwachsenen fanden das niedlich, die Lehrer waren voll des Lobes für dieses ordentliche Kind. Und keiner merkte, wie sehr Melanie litt.

Denn diese ersten Anfälle des totalen Perfektionismus waren erste typische Symptome einer Zwangsstörung, die häufig im Kindes- und Jugendalter beginnt. Eine psychische Erkrankung, die so selten gar nicht ist und oft lange unerkannt bleibt. So war es auch bei Melanie: „Abends legte ich alles genau zurecht für den nächsten Tag. Ich reagierte mit Wutausbrüchen, wenn da was schiefging.“

Auf den Ordnungswahn folgte der Waschzwang. Melanie begann zu putzen. Jeden Tag. Stundenlang. Damals war sie 13 Jahre alt. Und Mutter Michaela schöpfte keinen Verdacht: „Ich war dem Kind so dankbar, denn ich musste sehr viel arbeiten damals. Alles glänzte, wenn ich müde heimkam. Ich dachte, ihr macht das Spaß. Sie nahm mir die ganze Hausarbeit ab.“ Manchmal duschte Melanie nachts drei Stunden lang. Dann gab es Streit. Die Mutter: „Ich dachte an die Kosten und an den Ärger mit den Nachbarn. Das Haus war doch so hellhörig.“

Der Perfektionismus war von nun an Melanies ständiger Begleiter: „Das ging morgens im Bad beim Zähneputzen schon los. Ich dachte immer: Ich bin nicht perfekt.“ Sie wusch sich ständig die Hände, fühlte sich kontaminiert, das Ausziehen der Kleidung am Abend „war eine echte Challenge. Ich ekelte mich vor mir selbst.“

Aus dem Mädchen wurde eine junge Frau, die in Linz an der pädagogischen Hochschule studierte. „Die Seminare für Psychotherapie habe ich kaum ausgehalten. Ich wurde mir meiner Situation so bewusst.“ Es kam eine Phase, in der sie nicht mehr aufstand. Dazu gesellte sich eine Essstörung. Melanie stürzte sich auf den Sport: „Das nahm völlig überhand. Immer höher, immer weiter. Ich war total fertig.“ Sie ließ das Studium sausen und wurde Grafikdesignerin: „Das kam mir sehr entgegen. Ich konnte mich dabei ständig kontrollieren.“

Melanies Schwester Patricia und der Vater machten sich Sorgen. Doch Mutter Michaela winkte zunächst ab: „Als Mutter sucht man für alles eine Ausrede. Für mich war sie mein geliebtes Kind und absolut perfekt.“ Allerdings sah sie mit Sorge, dass Melanies Beziehungen alle scheiterten. Auch dafür fand sie eine Erklärung: „Wenn Melanie manchmal nachts bis 3 Uhr putzte, dachte ich, dass sie vielleicht nicht mit ihrem Freund schlafen wollte.“ Für diese Fehleinschätzungen macht sie sich heute bittere Vorwürfe: „Das nagt immer noch an mir. Ich wusste einfach nicht, dass es diese Krankheit gibt. Ich hatte nie zuvor etwas gehört von einer Zwangsstörung.“

Schließlich suchten Schwester und Vater das Gespräch mit Melanie. Und die reagierte erleichtert: „Ich verstand, dass ich etwas ändern muss.“ Nach langen Internet-Recherchen meldet sich Melanie in der AMEOS Klinik Bad Aussee in der Steiermark/Österreich an. Oberarzt Dr. Ulrich Förstner ist Facharzt für Psychiatrie und arbeitet dort als Leiter des Schwerpunkts Zwangserkrankungen: „Melanie war schon sehr gut informiert, wie viele junge Leute.“ In zwei mehrwöchigen Therapieaufenthalten erlernte sie im Rahmen einer Kognitiven Therapie (siehe Kasten) notwendige Strategien für den Alltag mit ihrer Erkrankung. Zeitweise nahm sie auch Medikamente – sogenannte Serotonin-Wiederaufnahme-Hemmer. Und dann kam der wichtige Schlüsselmoment: „Ich legte mich mit ungewaschenen Straßenklamotten in mein Bett. Eigentlich mein totaler Albtraum. Aber es passierte – einfach nichts!“

Ihr Credo lautet heute: „Man kann sich jeden Tag neu entscheiden.“ Melanie lebt mittlerweile ein ganz normales Leben, hat jetzt endlich wieder Zeit für Freunde, Hobbys, Familie. Mit ihrem Freund renoviert sie gerade ein Haus. Die beiden wünschen sich Kinder. Melanie geht regelmäßig in die ambulante Therapie, wagte den Schritt in die Öffentlichkeit: „Ich möchte dazu beitragen, dass die Aufklärung zum Thema Zwangsstörung besser funktioniert.“ Und sie outete sich in der ganzen Familie, bei Freunden und Kollegen: „Ich bekam nur positive Rückmeldungen. Das hilft sehr!“

Und auch Mutter Michaela kann wieder lachen: „Unsere Meli ist wieder da. Früher kam sie oft vier Stunden zu spät. Jetzt ist sie plötzlich pünktlich. Daran muss ich mich erst wieder gewöhnen. Und ich putze wieder selbst – und bin sehr glücklich darüber.“

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