So bedroht der Klimawandel unsere Berghütten

von Redaktion

VON CORNELIA SCHRAMM

Obergurgl – Eigentlich müsste Tobias Hipp gerade bitterlich erfrieren. Hier, im Langtal im Tiroler Ötztal, sah es vor nicht allzu langer Zeit noch wie in Grönland aus. Neben ihm hätten sich noch vor 150 Jahren Eisberge aufgetürmt. Und er hätte in einem See schwimmen müssen. In klirrend kaltem Wasser, das sich langsam, aber stetig seinen Weg aus dem Langtaler Gletscher hinab ins Tal bahnte.

Heute trägt Hipp kurze Hose und Käppi. „Wir stehen mitten im früheren Gletscherstausee“, sagt er und zeigt auf die Brache aus Schutt und Geröll unter seinen Füßen. Die kilometergroße Eiswanne entstand vor tausenden Jahren – der noch größere Gurgler Ferner schnitt hier dem Langtaler Ferner den Weg ab. Vor noch längerer Zeit, etwa 12 000 Jahren, waren sie noch eins.

Heute lässt sich das Langtal von Obergurgl aus bis zum kläglichen Gletscherrest ohne Steigeisen und Eispickel erwandern. Die Bergmassive rechts und links sind vom Gletscher glatt poliert, wie Adern stürzen Bäche die steilen Felswände hinunter. Je näher man dem Gletscher kommt, desto lauter rauschen die Wassermassen. Bis zu 80 Prozent davon ist Gletscherschmelze, der Rest Schnee und Regen.

„Versiegt der Gletscher als sicherer Wasserspeicher in den nächsten 25 Jahren, kommt unten im Tal nicht mal mehr halb so viel Wasser an“, sagt Hipp. Gleichzeitig werden die Winter schneeärmer, die Sommer trockener. Der promovierte Geograf ist Experte für den Klimawandel im Hochgebirge im Deutschen Alpenverein (DAV) . Ihn beschäftigen nicht nur schrumpfende Gletscher und Permafrost, sondern auch verschüttete Wege und Wasserknappheit auf Hütten.

Soll ein Wasserkraftwerk gebaut oder ein Skigebiet um einen Gletscher erweitert werden, wie es etwa das benachbarte Pitztal plant, landet das Bauvorhaben auch auf seinem Schreibtisch. Der DAV gibt Einschätzungen zu solchen Ideen ab – und die dürften begeisterten Skifahrern immer öfter missfallen. „Wieso sollte man das Angebot ausbauen, wo wir doch schon jetzt wissen, dass Mitte des Jahrhunderts kaum noch etwas vom Gletscher übrig ist und die Alpen Ende des Jahrhunderts eisfrei sind?“, fragt Hipp.

Mitte des Jahrhunderts – klingt nach einer langen Zeit. Wer wie Hipp aber durch das Langtal stapft, sieht, was allein in den vergangenen 30 Jahren mit dem ewigen Eis passiert ist: Seit 1990 hat der Ferner einen halben Kilometer eingebüßt. „Davon 130 Meter in den letzten zehn Jahren“, sagt Hipp. „In 25 Jahren sind 80 Prozent der jetzigen Fläche weg – und andere Gletscher in den Alpen schwinden noch rasanter.“

Im Langtal ist maximal drei Monate im Jahr Sommer – ein Sommer frisst 30 Meter Gletscher. Im Jahr 2100 wird der Langtaler Ferner nur noch auf Fotos existieren – ähnlich wie die Eisberge und der See auf den Skizzen von 1850, die Hipp gesichtet hat. Heute wandert der Geograf zum Ende der Gletscherzunge – ins Zentrum des Verfalls. Von Obergurgl durch einen Zirbenwald zur Langtalereckhütte auf 2480 Meter und dann tief hinein ins Langtal.

„So ein Gletscher ist kein Bulldozer, eher ein Förderband“, sagt Hipp, als er an der Langtalereckhütte steht. An ihre Terrasse hätte früher der Eissee angegrenzt. Beim Bau 1928 war der aber schon verschwunden. Von der Felskanzel lag der Ferner da direkt im Blick. Heute liegt er zwei Wanderstunden entfernt. Auf dem Weg dorthin muss Hipp zig Moränenhügel und Bäche queren. An manchen Stellen sind Felsteile von den schroffen Steilwänden abgeplatzt. Mal nur ein paar Zentimeter, mal viele Meter groß. „Seit Jahren drückt da kein Gletscher mehr dagegen – die Stützmauer fehlt“, sagt Hipp. „Ein Berg besteht aus diversen Gesteinsschichten. Lehmhaltige Schichten oder jene Teile, die bis vor Kurzem über Jahrtausende gefroren waren, geben nach.“ Hier treffen Splitter oder Brocken niemanden. An anderen Stellen in den Alpen bedroht dieser Prozess Siedlungen.

Je näher Hipp der Gletscherzunge kommt, desto karger wird das Tal. Anfangs spitzen noch Gräser heraus, manchmal sogar Blumenkissen aus hartgesottenen, pinken Azaleen. Irgendwann ist das „unsortierte Geröll“, wie Hipp die ganze Bandbreite zwischen Kiesel und stockwerkhohen Brocken nennt, nur noch neongrün gesprenkelt. Anhand der Flechten kann der Geograf beurteilen, wie lange sich dort schon kein Gletscher mehr befindet. Die Flechten sind die ersten Siedler nach der Schmelze, diese Lebensgemeinschaften aus Pilzen und Grünalgen werden artenreicher, je länger Flächen eisfrei sind.

Am Gletschertor angekommen, ist Erderwärmung nicht mehr nur ein Wort. Hier kann man der Schmelze zusehen. „Das Tor wird bald zusammenbrechen“, sagt Hipp. „An der dünnsten Stelle ist die Eisbrücke nur noch gut einen Meter dick.“ Im Sekundentakt krümeln Steinchen vom Tor, aber auch Felssplitter und hand- und kopfgroße Brocken. „Und jetzt ist noch nicht mal Sommer“, sagt Hipp bei acht Grad und pfeifendem Wind.

Knapp 400 Höhenmeter über der Zunge des Langtaler Ferners thront das Hochwildehaus auf 2883 Metern – und damit ein weiteres Mahnmal des Klimawandels. Die DAV-Hütte ist seit 2016 geschlossen – aus Angst, sie könnte einstürzen. Der Berg, auf dem sie 1938 gebaut wurde, regt sich immer massiver und schürft dicke Risse in die Wände der Hütte. Da geht der DAV lieber auf Nummer sicher.

Tobias Hipp steigt nach der Gletscher-Expedition über die andere Seite des Langtals ab. Dafür muss er die 142 Meter lange Piccard-Brücke queren, von der es 100 Meter in die Tiefe geht. „Die Hängebrücke wurde erst 2016 erbaut – und ist ein massiver Eingriff in die Natur“, sagt er. „Früher konnte man das Tal an anderer Stelle noch über den Gletscher queren – aber das wird wegen der Schmelze für den Durchschnittsbergsteiger immer schwieriger. Jetzt vereinfacht die Brücke die Tour immens.“

Hipp sieht das kritisch – für den DAV ist die Erschließung der Alpen abgeschlossen, das Wegenetz komplett. Gebaut haben die 411 000 Euro teure Brücke der Tourismusverband Obergurgl und das Land Tirol. „Wege durch Versicherungen zu erhalten, macht Sinn. Aber man muss sich heute genau überlegen, ob man bestimmte Wege durch massive technische Infrastruktur wie diese Brücke sogar noch zu Attraktionen macht“, sagt Hipp. Immerhin sind die einst so imposanten Gletscher hier bald verschwunden.

Andernorts fürchtet der DAV auf lange Sicht um die Wasserversorgung. Wenn in den nächsten Jahrzehnten Duschverbote, Trockentoiletten und der Appell an Wanderer, möglichst wenig Wasser zu verbrauchen, nicht mehr ausreichen, müssten Hütten auf lange Sicht aufgegeben werden. Ebenso wie Wege, die der Berg immer wieder schluckt. Der Klimawandel wird zur Gretchenfrage im Bergsport – und dafür ist das Ötztal nur ein Beispiel.

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