Höllenfahrt nach Lampedusa

von Redaktion

VON CINDY RIECHAU UND MANUEL SCHWARZ

Sfax/Lampedusa – Es ist nicht nur die tunesische Sommerhitze, die die jungen Männer ermüdet. Sie haben eine beschwerliche Flucht aus ihren Heimatländern südlich der Sahara hinter sich. Jetzt sitzen sie in Sfax, jener tunesischen Küstenstadt, von der derzeit die meisten Flüchtlingsboote nach Südeuropa aufbrechen. Die Männer starren ins Leere, während sie im Schatten Schutz vor der sengenden Sonne suchen.

Die meisten von ihnen wollen nach Lampedusa, die italienische Insel, die nur knapp 190 Kilometer entfernt liegt und die sie – irgendwie, irgendwann – auf einem Boot erreichen wollen. Für sie ist Lampedusa der Inbegriff für ein besseres Leben in Europa. Sie wollen dorthin, obwohl sie wissen, dass die Reise extrem gefährlich ist.

Einer von ihnen ist Marvellous aus Nigeria. Er hoffe auf eine Zukunft auf der anderen Seite des Mittelmeers. „Europa ist der Traum eines jeden Schwarzen“, sagt der 30-Jährige. Wann er diesen verwirklichen kann, weiß er nicht. Derzeit fehle ihm das Geld für die Überfahrt über das Mittelmeer. Deshalb bettelt er.

Mehr als 500 Menschen kamen bei Bootsunglücken vor Tunesiens Küste allein in diesem Jahr ums Leben oder gelten als vermisst. Das schreckt Marvellous nicht ab. Die Situation in Tunesien sei „verdammt schlecht“, erzählt er verzweifelt. Immer wieder würden Migranten Opfer von Gewalt. Vor ein paar Monaten seien Tunesier in seine Unterkunft eingebrochen, hätten ihn zusammengeschlagen und sein Geld gestohlen. „Sie behandeln uns wie Tiere.“

Nach einer Rede des tunesischen Präsidenten Kais Saied im Februar haben Anfeindungen und rassistische Übergriffe gegen Ausländer aus afrikanischen Staaten südlich der Sahara stark zugenommen. In Sfax klagen viele Anwohner. Die „Afrikaner“ seien für den vielen Müll auf der Straße verantwortlich, schimpft ein Kunde auf einem Flohmarkt. Ein Händler für Altkleider widerspricht: „Der Mann ist ein Rassist. Die Afrikaner sind gute, fleißige Arbeiter.“ Was er nicht sagt: Die Migranten verdienen für dieselbe Arbeit in der Regel deutlich weniger Geld als die Einheimischen.

An seinem Stand beschäftigt der Verkäufer für Second-Hand-Kleidung auch einen jungen Mann aus Gambia. Er spart, um dorthin zu kommen, woher seine Ware stammt: Europa. Die Lage in seiner Heimat sei „sehr schlecht“, sagt Ousman (19). Es gebe keine Arbeit. „Ich will einfach nur meiner Familie helfen.“

Der Hafen der Stadt gleicht einer Sicherheitszone. Einsatzkräfte patrouillieren und bringen immer wieder Migranten und Flüchtlinge, die sie auf dem Meer aufgespürt haben, zurück an Land. Das lukrative Geschäft mit dem Menschenschmuggel brummt in Tunesien. Nach Angaben des Gerichtssprechers werden allein in Sfax jeden Monat rund 30 bis 40 Fälle registriert. Den Beteiligten drohen hohe Haftstrafen.

Viele Migranten machen sich mittlerweile aber auch in selbst gebauten Booten, die meist kaum seetauglich sind, auf den Weg. Je nach Größe quetschen sich mehrere Dutzend Migranten an Bord, dann legen sie ab – Ziel Lampedusa. Bis zur Insel schaffen es aus eigener Kraft nur die wenigsten. Schon Tunesiens Küstenwache fängt viele Boote ab. Die meisten Migranten, die in internationale Gewässer gelangen, werden von Küstenwache, Carabinieri oder Finanzpolizei aufgespürt und an Bord oder im Schlepptau nach Lampedusa begleitet.

Dank der Informationen einer privaten Luftüberwachung kann an diesem Tag das deutsche Schiff „Mare*Go“ aus Schwerin ein kleines Holzboot mit Migranten orten. Es ist seit zwei Tagen unterwegs. Die Helfer geben den 39 Menschen an Bord Wasser, etwas zu essen und Rettungswesten und warten, bis die italienische Küstenwache kommt und die Migranten übernimmt.

Kurze Zeit später gehen sie in Lampedusa an Land. Dort ist eine ganze Mole nur für derartige Rettungseinsätze reserviert. Anfang Juli kamen mehr als 4500 Migranten binnen 72 Stunden an, mehr als 30 000 seit Jahresbeginn.

„Das sind viel mehr als in den Jahren zuvor“, erzählt Emma Conti. Die 23-Jährige ist für Mediterranean Hope auf Lampedusa; die Initiative der evangelischen Kirche in Italien kümmert sich um den Empfang der Migranten an der Mole – und damit in einem EU-Land. „Wir versuchen, die Grenze menschlich zu machen“, erzählt Conti. Die junge Frau aus Mailand und drei Mitarbeiter verteilen Wasser, Tee, an kalten Tagen dünne Thermofolien oder auch Spielzeug für die Kinder.

Beim Ankommen nach manchmal tagelanger Irrfahrt werden Migranten oft von Gefühlen überwältigt. „Es gibt Momente der Freude und des Glücks, wenn sie es endlich geschafft haben“, erzählt Conti. Aber es komme auch zu dramatischen Szenen, wenn etwa Menschen erzählen, dass auf der Überfahrt Freunde oder Verwandte im Meer ertrunken seien. „All diese Menschen sind durch die Hölle gegangen.“

In der Öffentlichkeit sorgten große Schiffsunglücke wie jüngst vor Griechenland für Aufsehen. „Aber wir hier in Lampedusa haben fast jede Woche Boote, die im Meer untergehen“, sagt Conti. Die Vereinten Nationen zählen seit Jahresbeginn 1724 tote oder vermisste Personen auf der zentralen Mittelmeerroute zwischen Nordafrika und Süditalien. Die Dunkelziffer dürfte viel höher sein.

Angesichts der Entwicklungen wirkt es zynisch, dass auf der anderen Seite des Hafens in Lampedusa, noch in Sichtweite der Mole, die „Aurora“ angetaut ist. Italien hat das Schiff des Berliner Seenotrettungsvereins Sea Watch Mitte Juni für 20 Tage festgesetzt, weil es mit 39 geretteten Migranten nach Lampedusa fuhr – und nicht, wie von Rom angeordnet, in das weiter entfernte Trapani auf Sizilien.

Alberto Mallardo von Sea Watch schüttelt den Kopf, wenn er über das Dekret der rechten Regierung in Rom spricht, das so eine Strafe vorsieht. „Wir hoffen, so schnell wie möglich wieder auslaufen zu können“, sagt Mallardo. „Vor allem fordern wir aber eine europäische Such- und Rettungsmission.“ Italien fühlt sich allein gelassen. Mehr als 61 000 angekommene Bootsmigranten zählte das Innenministerium Ende Juni – im vorigen Jahr waren es zu diesem Zeitpunkt gut 27 000.

Nach ihrer Ankunft im Hafen von Lampedusa steigen die Geretteten in Kleinbusse, die sie in wenigen Fahrminuten in den Hotspot, ein Erstaufnahmelager im Landesinneren, bringen. Dieses ist offiziell für rund 400 Menschen ausgelegt – zuletzt wurden dort mehr als 3250 gezählt. So voll war das Camp noch nie, twittert der Journalist Sergio Scandura, der seit Jahren über Flüchtlinge im Mittelmeer berichtet.

Mit den Fähren und Sonderschiffen der Polizei oder des Militärs versuchen die Behörden, die Migranten schnell wieder von der Insel wegzubringen. Die Schiffe manövrieren vorbei an Ausflugsbooten, an der Küste Lampedusas sind die malerischen Buchten mit ihrem türkisblauen Wasser zu sehen. Wasser aus demselben Mittelmeer, das für so viele Migranten schon zum nassen Grab wurde. Jenes Meer, dem sich auch Menschen wie Marvellous aus Nigeria oder Ousman aus Gambia ausliefern wollen in ihrem Wunsch nach einem besseren Leben.

Artikel 2 von 3