Alleine im Luftschutzkeller

von Redaktion

REISEBERICHT Auf Einladung eines ukrainischen Parlamentariers war unser Kolumnist Prof. James Davis in Odessa

VON JAMES DAVIS

München – Die Anreise nach Odessa ist schwierig: Direkte Flugverbindungen gibt es nicht. Mit dem Zug über Kiew würde die Fahrt eine Ewigkeit dauern. Mein Gastgeber schlug Palanka vor, einen Übergang an der Grenze zwischen Moldawien und der Ukraine.

Als eines der kleinsten europäischen Länder ist Moldawien derzeit geopolitisch von großer Bedeutung. Seit 1990 wird der Ostteil des Landes, Transnistrien, von Separatisten beherrscht. Das Gebiet steht unter russischem Einfluss. Zwischen ein- und anderthalbtausend russische Soldaten sind dort stationiert. Und Transnistrien beheimatet eines der größten Depots alter russischer Munition. Es ist eine Brutstätte des Waffenschmuggels und anderer internationaler krimineller Aktivitäten. Putins Geheimdienste benutzen Transnistrien als Stützpunkt für ihre Bemühungen, die prowestliche demokratisch gewählte Regierung in Chisinau zu destabilisieren.

Nach einem Flug über Wien nach Chisinau verlief der Weg nach Palanka entlang der unsichtbaren Grenze zu Transnistrien. Folglich war ich einigermaßen beruhigt, als ein befreundeter ehemaliger Ministerpräsident aus Moldawien mir eine sichere Fahrt nach Palanka anbot. Nach Hin-und-her-Telefonaten zwischen den Wachstationen der beiden Seiten, durfte ich dann zu Fuß in die Ukraine gehen.

Aber tatsächlich war die Anreise nach Odessa im Vergleich zu den drei Tagen, die ich dort verbrachte, noch entspannend: Besuche in Gemeindezentren, wo Frauen an Tarnnetzen für die Front arbeiteten, Treffen mit durch den Krieg verwaisten Kindern und mit verwundeten Soldaten in einer Rehabilitationsklinik, dann zu einer Ausstellung von Krieg inspirierter Kunst und zu einer Aufführung patriotischer Musik im berühmten Opernhaus von Odessa.

Ich habe mich besonders gefreut, einen Vortrag an der Odessa National Economics University halten zu dürfen und die Studenten und Kollegen kennenzulernen. Unter schwierigsten Bedingungen setzten sie Unterricht und Forschung fort. Trotz regelmäßiger Drohnen- und Raketenangriffe und trotz der Kämpfe weniger als 200 Kilometer östlich gelingt es den Bürgern Odessas, so etwas wie Alltag zu bewahren. Diese Aufrechterhaltung des täglichen Lebens ist ein bewundernswerter Akt des Widerstands gegen die illegale und barbarische Aggression.

Einen ersten Eindruck von der Tapferkeit der Ukrainer habe ich bereits in meiner ersten Nacht im Hotel bekommen. Um 1.56 Uhr wurde ich sowohl von den Luftsirenen draußen als auch von der App geweckt, die ich auf mein Smartphone heruntergeladen hatte. Aus meinem Handy hörte ich: „Luftalarm! Geh in den Schutzraum! Deine Selbstüberschätzung ist deine Schwäche!“ In einer Turnhose und einem T-Shirt machte ich mich auf den Weg zum Luftschutzkeller des Hotels. Außer einer älteren Ukrainerin war ich die einzige Person dort, und irgendwann stellte ich fest, dass auch sie weg war. Doch ich blieb, bis mir meine App mitteilte, dass es nun sicher sei. Es war 4.22 Uhr morgens und die Sonne kam heraus.

Später, auf dem Weg zum Frühstück, fragte ich die schüchterne junge Dame an der Rezeption, warum ich allein im Luftschutzkeller gewesen sei. Wo waren die anderen Hotelgäste? „Wir sind Ukrainer“, sagte sie. „Wir haben keine Angst vor russischen Bomben.“

Ganz gleich, ob es sich um die dreizehn Grenzsoldaten handelte, die sich weigerten, die Schlangeninsel einem Flaggschiff der russischen Marine zu übergeben, oder um den Soldaten, den ich traf, der durch eine Landmine ein Bein verloren hatte und sich nichts sehnlicher wünschte, als an die Front zurückzukehren, oder um die normalen Leute, die ihren Alltag in Odessa aufrechterhalten: All diese Ukrainer beweisen in ihrem Kampf um die Verteidigung ihres Landes Heldenmut. Als ich zu Fuß die Grenze in Richtung Moldawien überquerte, fragte ich mich, ob wir im Westen diesen Mut aufbringen würden.

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