„Die Stimmung in Deutschlands Industrie ist schlecht“

von Redaktion

INTERVIEW BDI-Chef Russwurm glaubt nicht an günstigen grünen Strom und fordert mehr Investitionen vom Bund

München – Er gilt als Kämpfer für den Industriestandort Deutschland: Seit Januar 2021 ist Siegfried Russwurm Präsident des Bundesverbandes der Deutschen Industrie (BDI). Russwurm begann seine Karriere nach dem Studium der Fertigungstechnik bei Siemens und blieb dem Münchner Konzern einen Großteil seines Berufslebens treu. Heute ist Siegfried Russwurm Aufsichtsratsvorsitzender beim Essener Stahlkonzern Thyssenkrupp sowie beim baden-württembergischen Maschinenbauer Voith. Ein Gespräch über die Energiewende und den aktuellen Zustand des Industriestandorts Deutschland.

Wirtschaftsminister Robert Habeck sagt, die Standortbedingungen in Deutschland seien sehr gut, für eine „German Angst“ gebe es keinen Grund. Aktienanleger sehen mit Freude, dass der Dax bei über 16 000 Punkten steht. Es läuft offenbar prima in Deutschland.

Na ja, das sehe ich differenzierter. Angst ist natürlich immer ein schlechter Ratgeber und „German Angst“ ist wirklich das Letzte, was wir brauchen. Aber dass Deutschland ein rundum attraktiver Standort ist für die Industrie, das sehen die Unternehmen derzeit leider ganz anders – und dafür gibt es viele Gründe. Man darf nicht vergessen: Dax-Konzerne sind international tätig. Den überwiegenden Teil ihres Ergebnisses erzielen viele im Ausland.

Also leidet der deutsche Mittelstand?

Mittelständler versuchen mehr und mehr, dem Auslandstrend der großen Konzerne zu folgen, weil sie feststellen, dass die Standortbedingungen in Deutschland global immer weniger wettbewerbsfähig sind. Viele tätigen ihre neuen Investitionen zunehmend außerhalb Deutschlands.

Betet die Regierung die Wirtschaft gesund?

So würde ich es nicht ausdrücken. Aber mir fehlt eine saubere statistische Aussage, was hier im Land vor sich geht. Der Bundeswirtschaftsminister muss sich die Frage gefallen lassen, warum es keinen Indikator gibt, der Aussagekraft hat und nach dem er seine Politik ausrichten kann.

Was sagt Ihr Gefühl? Wie ist das Investitionsklima?

Wirklich schlecht. Gerade für die produzierende Industrie sind die Rahmenbedingungen alles andere als brauchbar.

Halten Sie die AfD für ein Risiko für den Industriestandort Deutschland?

Absolut. Eine Partei, die erklärt, dass sie die europäische Einigung und den Euro für ein Übel hält und die nicht akzeptiert, dass Deutschland einer der größten Profiteure eines geeinten Europas ist – an einer solchen Partei ist nichts Positives. Dazu kommt, wie diese Partei mit Flüchtlingen und anderen Minderheiten umgehen will. Es gibt ja nicht nur eine wirtschaftliche, sondern auch eine ethische Dimension. Als BDI-Präsident sage ich ganz klar: Deutschland lebt von seiner weltweiten Vernetzung. Und jede Politik, die diese Vernetzung reduzieren will, schadet dem Wirtschaftsstandort und damit uns allen. Außerdem brauchen wir qualifizierte Zuwanderung, allein schon für den Arbeitsmarkt.

Schrecken Wahlerfolge der AfD auch ausländische Investoren ab?

Ja. Wenn ich in den USA bin, fragen mich Gesprächspartner, ob man sich Sorgen machen müsse.

Was sind die größten Probleme des Investitionsstandorts Deutschland?

Ein ganz zentrales Problem ist der Bürokratie-Wust. Nirgendwo anders auf der Welt gibt es so etwas. Und diese Bürokratie führt zu einer Schneckengeschwindigkeit, dass es einen nur so graust.

Ein Beispiel bitte.

Nehmen wir den Transport von Bauteilen für ein einziges Windrad: Um solche Transporte von einem Nordsee-Hafen nach Bayern zu bringen, braucht man bis zu 150 Genehmigungen allein für die Schwertransporte. Für jedes Bundesland benötigt man eine neue Genehmigung pro Lkw-Transport auf der Autobahn. Wenn ich mit dem Auto nach Berlin unterwegs bin, sehe ich an der Landesgrenze von Thüringen nach Bayern regelmäßig Schwertransporter mit Windkraftkomponenten stehen. Und die stehen da wohl nicht, weil es so toll ist, dort Brotzeit zu machen, sondern weil sie auf die Erlaubnis zur Weiterfahrt warten.

Damit hat Söder eine Ausrede, warum es so wenige Windräder in Bayern gibt.

Nein, denn jeder muss für zügige Transporte ohne unnötige Unterbrechungen sorgen. Aber am sinnvollsten wäre ohnehin eine übergreifende Genehmigung für die Fahrt durchs ganze Land.

War es eine gute Entscheidung des Kanzlers, den Wirtschaftsminister gleichzeitig zum Klimaminister zu machen?

Das kann man definitiv machen, weil die Dekarbonisierung, also der Ausstieg aus fossilen Energieträgern, ein zentrales Thema für die Wirtschaft ist.

Söder sagt, Habeck sei zu sehr Klima- und zu wenig Wirtschaftsminister.

Das ist eine andere Frage. Die Kombination an sich ist sinnvoll, die Ausgewogenheit der bisherigen Bilanz im tatsächlichen Tun kann man durchaus kritisch hinterfragen.

Immerhin fordert Habeck einen verbilligten Industriestrompreis. Die Wirtschaft müsste doch eigentlich „Hurra“ schreien?

„Hurra“ schreien wir nicht. Der Industriestrompreis ist als Brücke gedacht, bis der Ausbau der Erneuerbaren Energien hochgefahren und Energie damit angeblich günstig ist. Die Sache ist aber die: Wir kennen das zukünftige Energiesystem mit seinen Preisen noch gar nicht. Wir wissen also gar nicht, wohin die Brücke führt.

Sie misstrauen dem Versprechen, dass der Strompreis nach dem Ausbau der Erneuerbaren günstig ist?

Absolut. Sechs Cent pro Kilowattstunde am Fuß der Windturbine in der Nordsee ist ein ganz anderer Preis als der, der bei Unternehmen im bayerischen Chemiedreieck ankommt – da bin ich schnell beim doppelten bis dreifachen Preis. Den günstigen Preis an der Windturbine gibt’s nur dann, wenn der Wind weht. Damit sind wir bei einem weiteren zentralen Problem des Investitionsstandorts: Strom ist in Deutschland im internationalen Vergleich extrem teuer.

Warum?

Das eine sind die Steuern und Abgaben. Bevor man über einen Industriestrompreis nachdenkt, wäre es daher sinnvoller, die Stromsteuer in Deutschland auf das EU-weite Minimum zu senken. Dann wär’s für alle billiger, auch für Handwerksbetriebe und private Haushalte, die sich jetzt sorgen, dass mit Steuergeldern irgendwelche Großkopferten finanziert werden. Strom ist im Ausland auch deshalb günstiger, weil Deutschland aus politischen Gründen aus den Energieträgern rausgeht, die sieben Tage die Woche und 24 Stunden am Tag zur Verfügung stehen.

Sie haben mit dem Thema Atomkraft noch nicht endgültig abgeschlossen?

Ich beschreibe nur die Lage. Die Atomkraft in Deutschland wieder einzuführen, daran glaube ich nicht. Aber Deutschland ist groß im Aussteigen und weniger gut unterwegs beim Aufbau erforderlicher neuer Kapazitäten.

In Wasserstoff will Deutschland einsteigen.

Herr Habeck sagt, wir brauchen wasserstofffähige Gaskraftwerke mit einer Leistung von 25 Gigawatt. Das entspricht 50 Kraftwerken mit einer Leistung von jeweils 500 Megawatt. Es ist aber überhaupt nicht klar, wer diese Kraftwerke bis 2030 bauen soll und die dafür notwendigen Kapazitäten hat. Und auch nicht, wer sie finanzieren soll.

Wohl der Steuerzahler.

Oder der Verbraucher über einen höheren Strompreis. Als Ingenieur habe ich mir solche wasserstofffähigen Turbinen natürlich interessiert angeschaut. Die Technologie ist beeindruckend. Weil es beim Verbrennen von Wasserstoff zu sehr hohen Temperaturen kommt, braucht man Keramik-Hitzeschilde. Die Brennkammer einer solchen Turbine sieht aus wie ein nach innen gestülptes Space-Shuttle. Das kostet einen Haufen Geld. Heißt: Wasserstofffähige Gaskraftwerke als Back-up für Phasen, in denen Wind und Solar nicht genug Strom liefern, sind sehr teuer. Und 2030 – in sechseinhalb Jahren – sollen die Kraftwerke stehen. Wie realistisch das ist, kann man sich schon fragen.

Gehen dann die Lichter aus?

Das nicht. Aber die traurige Konsequenz wäre wohl, dass wir noch länger Kohle zur Stromerzeugung brauchten, weil die Bundesnetzagentur Netzstabilität und Versorgungssicherheit anders nicht garantieren könnte.

Wie wichtig sind die Stromtrassen, die Nordseestrom in die bayerischen Industriezentren transportieren sollten?

Extrem wichtig! Diese Trassen sind zwingend. 2028 gibt es sie, heißt es jetzt – ich bin gespannt.

Ärgern Sie die Verzögerungen?

Ja natürlich. Wir diskutieren seit Jahren darüber. Wenn ich durch die Rhön fahre, sehe ich immer noch Protestplakate. Ich verstehe natürlich die Landwirte dort, die Solaranlagen auf ihrem Stall haben und sich fragen, warum bei ihnen vor der Haustür Leitungen verlegt werden sollen, um Strom von der Nordsee ins bayerische Chemiedreieck zu transportieren. Es hilft bloß nix. Auch die bayerische Industrie muss eine Chance haben, an genügend grüne Energie zu kommen.

Offenbar war es nicht hilfreich von Horst Seehofer, die Leitungen als „Monstertrassen“ zu bekämpfen.

In Marktgraitz in Oberfranken, wo ich aufgewachsen bin, ist das nächste Umspannwerk wenige Kilometer entfernt. Die Hochspannungsleitungen waren halt immer da – und keinen hat’s groß gestört. Von „Monstertrassen“ zu sprechen hat niemandem etwas gebracht. Und jetzt werden die Leitungen für achtmal so viel Geld im Boden vergraben – und selbst da gibt es noch Leute, die sich dagegenstellen.

Zweifeln Sie am grünen Wirtschaftswunder, das die Bundesregierung vorhersagt?

Ich sehe es zumindest nicht. Wir schalten ja etwas Bestehendes ab – und ersetzen es durch etwas Neues. Produktivvermögen entsteht dadurch nicht.

Wie kann die Energiewende dennoch gelingen? Sie sagen ja selbst, dass der Ausstieg aus den fossilen Energien wichtig ist.

Die Dekarbonisierung muss kommen, aber sie kostet viel Geld. Die Bundesregierung muss ihre Investitionen priorisieren. Wenn Habeck argumentiert, er bekommt vom Finanzminister kein Geld, muss die Regierung das intern klären. Zusätzlich sind natürlich privatwirtschaftliche Investitionen erforderlich. Aber die gibt es nur, wenn sie sich lohnen. Dafür muss die Politik den Rahmen setzen.

Sie führen auch persönliche Gespräche mit Wirtschaftsminister Habeck und Bundeskanzler Olaf Scholz. Dringen Sie mit Ihren Argumenten durch?

Fakten sind Fakten, da führt kein Weg dran vorbei. Deshalb wird unsere Problembeschreibung mehr und mehr akzeptiert. Was noch zu oft fehlt, ist konkretes, entschlossenes Handeln und mehr Deutschland-Tempo – nicht nur bei LNG-Terminals.

Verlieren Sie allmählich die Geduld?

Auch wenn es manchmal schwerfällt: Ein BDI-Präsident darf die Geduld nicht verlieren und muss auch dicke Bretter bohren. Ansonsten hat er den Job verfehlt.

Interview: Sebastian Hölzle und Georg Anastasiadis

Artikel 2 von 2