München – Plötzlich müssen wir wieder über Panzer, Waffen und Verteidigungssysteme sprechen: Mit dem russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine rückt die deutsche Rüstungsindustrie ins Licht der Öffentlichkeit, die sich zuvor jahrzehntelang wenig um diese Branche gekümmert hatte. Viele wichtige Firmen sitzen in Bayern – darunter Krauss-Maffei-Wegmann (KMW) in München – seit Kurzem Teil der Holding KNDS. Wir haben uns mit KMW-Chef Ralf Ketzel getroffen. Er redet Klartext über Fehler in der politischen Planung, die „Zeitenwende“ des Kanzlers – und den Standort Allach.
Die Ukraine kämpft seit über 17 Monaten gegen die russischen Invasoren. Inzwischen sind jede Menge Ihrer Waffensysteme auf dem Schlachtfeld, vom Leopard 1 und 2 über die Panzerhaubitze 2000 bis zum Gepard. Aber die Kriegswende ist nicht absehbar. Ein „Gamechanger“, also entscheidender Faktor, sind die Systeme offenbar nicht, oder?
Wir haben nur bedingt Einblick, was in der Ukraine tatsächlich passiert. Und zum militärischen Verlauf sind wir als Industrie nicht der richtige Ansprechpartner. Aber was die Fahrzeuge von KNDS angeht, dürfen wir die Dimensionen nicht vergessen: Wir sprechen hier über einen Konflikt entlang einer 1000 Kilometer langen Grenzlinie. Die ukrainischen Streitkräfte verfügen aktuell gerade über hundert Kampfsysteme von KNDS Deutschland. Unsere Systeme entfalten große Wirkung und beweisen auch, dass sie russischer Wehrtechnik überlegen sind. Das hat der Ukraine geholfen, um die Situation zu stabilisieren. Das ist auch das Feedback, das wir aus der Ukraine erhalten.
Im Februar 2022 hat Bundeskanzler Scholz die Zeitenwende ausgerufen und 100 Milliarden Euro Sondervermögen für die Bundeswehr angekündigt. Bislang kommt das Geld nur schleppend in der Industrie an. Wie viel haben Sie davon schon gesehen?
Wirklich neu dazugekommen ist bei uns bis heute eigentlich nichts.
Bitte?
Der Puma war ja schon vor Kriegsausbruch eingeplant. Bei wirklich neuen Projekten geht es weiterhin nur sehr schleppend voran.
Wieso?
In praktisch allen Ländern kommt der Beschaffungsauftrag, wenn ein neues System steht und erfolgreich getestet wurde. Mögliche Wünsche laufen dann parallel zur Serienfertigung. Das ist in Deutschland anders. Da gibt es dieses Vertrauen in die mögliche Umsetzung nicht. Das kostet bei der Beschaffung teilweise extrem viel Zeit.
Es fehlt in Deutschland also am Vertrauen in die Fähigkeit der Industrie?
Ja.
Wenn Sie auf Aufträge aus dem Sondervermögen hoffen, müssen Sie sich ranhalten. Die hohe Inflation und die Zinsen fressen sich ins Budget. In einer Studie geht das Ifo-Institut jetzt noch von rund der Hälfte aus. Geht Zeitenwende mit 50 Milliarden?
Das kommt drauf an. Es gibt das Zwei-Prozent-Ziel der Nato – das ist eine zentrale Voraussetzung, um die Einsatzfähigkeit der Bundeswehr auch langfristig wieder deutlich zu erhöhen. Nur bleiben wir wohl auf absehbare Zeit hinter der Nato-Verpflichtung zurück. Natürlich ist das Sondervermögen ein Zeichen für die Zeitenwende. Aber das Momentum wurde nicht genutzt, um ein klares Signal zu setzen.
Also ist die Zeitenwende ein Etikettenschwindel?
Nein. Die Sicherheit, die in den bisherigen Beschaffungsprogrammen erreicht wurde, ist viel wert. Der erweiterte Puma-Auftrag, die Nach-Bestellungen für Bundeswehr-Ausrüstung, die in die Ukraine geht, sind ebenfalls positive Signale. Dass die deutsche Rüstungsindustrie jetzt in einen Krisen- oder gar Kriegsmodus wechselt, hat ohnehin niemand erwartet.
2027 könnte das Geld aus dem Sondervermögen weg sein. Dann müsste der Verteidigungsetat drastisch steigen – wohl auf Kosten anderer Ressorts. Wie zuversichtlich sind Sie da?
Die tatsächliche Höhe hängt an der Entwicklung des BIP. Wenn die Konjunktur brummt, liegt der absolute Wert höher und umgekehrt. Aber was mich mehr umtreibt, ist die Sorge, dass wir aufgrund des Sondervermögens der Illusion erliegen, wir könnten unsere Sicherheitsbedürfnisse wehrtechnisch alleine stemmen. Das ist ein Trugschluss. Aus Gesprächen etwa mit Amerikanern weiß ich, dass viele sehr erstaunt darüber sind, wie viel Geld Europa durch Parallel-Projekte in der Rüstung versenkt. Konkurrenz ist gut. Aber in dem Ausmaß, wie wir uns das leisten, ist es eine große Verschwendung.
Das aktuelle Umfeld könnte für Rüstungsunternehmen wie Ihres eigentlich besser kaum sein. Was heißt das fürs Personal am Standort Allach und was in Kassel?
Wir haben aktuell 1800 Beschäftigte in Allach am Standort und wollen weiterhin pro Jahr 50 bis 100 neue Stellen schaffen. In unserem Werk in Kassel sind etwa 1500 Mitarbeiter beschäftigt. Auch hier wollen wir weiter wachsen.
Interview: Thomas Schmidtutz