München/Europa – Diese Geschichte übers Zugreisen beginnt mit einer Verspätung, wie auch sonst. Weil das Schicksal Humor hat, spielt diese Episode in der klischeehaft pünktlichkeitsfixierten Schweiz. Weil es Sinn für die schönen Dinge des Lebens hat, ist diese Verspätung gleichzeitig eine Offenbarung. Wie schön Zugreisen sein kann, wenn einen das Unvorhergesehene nicht aus der Bahn wirft – auch wenn es einen aus dem Zug wirft.
Für die Strecke von Au am Zürichsee nach Zürich Hauptbahnhof braucht ein Zug nur zehn Minuten. Nur nicht, wenn dazwischen ein Postauto (Schweizerdeutsch: Päckliwagen) auf den Gleisen stecken bleibt und dann ein Regionalzug für einen Päckli-Regen sorgt. Zum Glück ohne Verletzte. Wir Fahrgäste, die wir uns im nachfolgenden EN 40414, dem Nachtzug Zagreb-Zürich, noch den Schlaf aus den Augen reiben, wissen noch nicht, dass uns auf den letzten Metern eine mehrstündige Verspätung blüht.
Seit einer Woche bin ich da schon mit dem Zug unterwegs. War in Budapest beim Friseur und in Wien im Kaffeehaus. Bin in Bratislava beim Schnapseln mit dem Bräustüberl-Kellner verhockt. In Graz hat das Schicksal die unübertreffliche Elke neben mich in die Tram geschickt, was in einen unvergesslichen Abend im Fußballstadion mündete. Und in Zidani Most, tief im slowenischen Hinterland, hat mir der Barkeeper Angst vor den Bären in den Wäldern gemacht.
Einen Monat lang darf ich mich auf den Schienensträngen Europas treiben lassen, dafür habe ich mir ein Interrail-Ticket gekauft. Erster Klasse, man ist schließlich keine 20 mehr. Am Ende werden es zehn Länder gewesen sein. 58 Ein- und Ausstiege. Jeden Tag eine neue Stadt, manchmal zwei. Das klingt nach Schweinsgalopp, wären da nicht die Zugfahrten. Zeit zum Lesen, Planen, Dösen und aus dem Fenster Meditieren. Das Gleis ist das Ziel.
An jenem Morgen im schweizerischen Eisenbahn-Nirgendwo, ist es das erste Mal auf dieser Reise, dass richtig was schiefgeht. Und es wird das einzige Mal bleiben. „Das ist so typisch Schweiz!“, flucht eine Einheimische den Flur entlang, die offenbar noch nie mit der Deutschen Bahn unterwegs war. Während ich, strumpfsockig und den Frühstückstee in der Hand, der Familie aus Singapur im Abteil nebenan meine Ahnungslosigkeit dolmetsche, spielt eine junge Frau eine Tür weiter Gitarre. „Let me out!“, trällert sie gut gelaunt in den Waggon. Lasst mich raus! Die Leute lachen, spenden Applaus. Der Zürichsee funkelt in der Morgensonne. Ein Grinsen schleicht sich in mein Gesicht. Im Bauch braut sich das Gefühl zusammen, dass ich nirgendwo anders sein möchte.
Interrail hört sich nach Studenten- und Herumtreibertum an. Zweiteres stimmt, bei Ersterem kommt es darauf an, wie man’s macht. Ich habe keinen Schlafsack im Rucksack, um notfalls in einem Wartesaal zu pennen. Stattdessen buche ich, den größeren Teil der Reise mit einem Lieblingsmenschen unterwegs, Unterkünfte jeweils am Nachmittag per Handy aus dem Zug. Sobald ungefähr klar ist, wo die Etappe endet. Zwei im Voraus arrangierte Nachtzug- und eine Fährverbindung ausgenommen. Das macht den Urlaub teurer, aber komfortabel. Und erhält die Spontaneität, den großen Trumpf der Interrail-Karte. Es genügt, beim Einsteigen die Verbindung in der App einzutragen, um mitzufahren.
So ergibt sich etwa ein Halbtagestrip aus dem Luzerner Regenwetter unter dem Gotthardmassiv hindurch auf einen Aperol Spritz an den Lago Maggiore. Na gut, zwei Aperol Spritz, es muss ja keiner fahren. Dank der unbarmherzigen Pünktlichkeit der Schweizer Bundesbahn und des längsten Eisenbahntunnels der Welt klappt es mit dem Check-in in Zürich sorgenfrei, trotz eines 250-Kilometer-Schlenkers ins sonnige Tessin. Und bevor wir, gut zwei Wochen später, in Südfrankreich die Traumstrecke zwischen von Flamingos bevölkerten Salzseen in Richtung Marseille antreten, kegelt uns ein Spontanentschluss in Portbou aus dem Zug.
Kein Mensch kennt dieses verschlafene Fischerdorf an der spanisch-französischen Grenze, mit seiner seit Einrichtung des Schengenraums verfallenden Bahnhofshalle, die sich größenmäßig vor dem Münchner Hauptbahnhof nicht verstecken braucht. Bei gegrilltem Tintenfisch mit Blick auf den Gedenkstein für den dort tragisch auf der Flucht vor den Nazis aus dem Leben geschiedenen deutschen Philosophen Walter Benjamin stellt sich die Erkenntnis ein: Das Besondere lauert immer an der nächsten Bahnsteigkante. Man muss nur aussteigen.
Wie an Tag sieben. Uns gestrandeten Nachtzugpassagieren bleibt gar nichts anderes übrig, weil sich kein Ende des Päckli-Dramas abzeichnet. Auf dem Bahnsteig adoptiert mich die Schweizerin, die kurz zuvor so energisch auf die Schweizer Bahn geschimpft hat. Stephanie kommt mit ihren Kindern Ronja (7) und Emil (9) gerade genau wie ich aus Ljubljana.
Wir umkreisen im Bummelzug den Zürichsee gegen den Uhrzeigersinn, um der Sperrung auszuweichen. Ronja und Emil malen in meinem Reisetagebuch, und Stephanie versorgt mich mit Tipps für Zürich. Bevor sich unsere kleine Adoptivfamilie am Hauptbahnhof verläuft, tauschen wir Nummern aus, schließlich plant Stephanie eine Reise mit dem Töff (Schweizerdeutsch für Motorrad) nach München. Und wie auch immer der Schweizer eine Verspätung nennt – es hat sich nicht so angefühlt. Schon an diesem Tag sieben bin ich froh, dass ich Reisetagebuch geführt habe, weil die vielen Eindrücke im Kopf zu einem bunten Interrail-Blumenstrauß verschwimmen.
Da ist die luxuriöse Fahrt mit dem Eurocity 274 von Budapest nach Bratislava mit der tschechischen Bahn. Es gibt Stofftischdecken, Kellner in Livree, und die böhmischen Knödel schmecken, wie es die Fotos auf der Speisekarte glauben machen. Das ist der Unterschied zwischen Bordbistro und Speisewagen.
Oder der graffitiverschmierte, überfüllte Schienenbus 18588, der einen zehn Gehminuten vom schiefen Turm von Pisa einsammelt und schweißgebadet in die wunderschöne Festungsstadt Lucca karrt – das volle vorstellbare Geruchsprogramm inklusive. Oder der FT 927, bekannt als Bernina Express, der seine Fahrgäste durch wasserdurchtoste Bergtäler und über schneebedeckte Pässe von Chur ins italienische Tirano bringt – mit einer Gleisarchitektur und einem Naturschauspiel, dass einem die Kinnlade fast bis auf die Gummidichtung des Panoramafensters klappt. Oder der pfeilschnelle TGV 6188, der in drei Stunden und acht Minuten die 800 Kilometer von Marseille nach Paris auf einen halben Vormittag zusammenschnurren lässt.
Als ich nach einem Mittagszwischenstopp in Paris und sechs weiteren Stunden Fahrt in München aussteige, letzte Etappe, fühlt es sich an wie ein Abschied aus einer anderen Welt. Einer Welt, überraschend zuverlässig von Fahrplänen durchgetaktet. Eine Welt, in der die nächste unvergessliche Begegnung jederzeit gegenüber sitzen kann. Eine Welt, die vom sanften Ruckeln über die Schienen bestimmt wird. Der pochende Rhythmus der Zugräder schwingt nach 28 Reisetagen nach. In den Beinen und im Kopf, der nun chronisch vom Weiterfahren träumt.
Am Ende von 7300 Gleiskilometern bleiben ungezählte Eindrücke entlang der Schienen. Entlang der Stahlbänder, die Europa und seine Menschen verknüpfen und zusammenbringen, wie es keine Airline kann. Der Bahnhof ist, anders als der Flughafen, fast immer in der Innenstadt. Verspätungen: die eine oder andere, keine davon urlaubsgefährdend. Zugausfälle: einer, weil in Italien die Lokführer streiken. Stau: keiner.