Bayerns Schmetterlinge in Bedrängnis

von Redaktion

Die Bestände sind rückläufig – vor allem viele oft als Motten verkannte Kleinschmetterlingsarten sind gefährdet. Grund ist der schwindende Lebensraum.

VON BEATRICE OSSBERGER

München – Von dem kleinen Parkplatz führt ein Pfad mitten hinein in das „Juwel der Artenvielfalt“, wie Andreas Segerer die Garchinger Heide nennt. „Da summt und flattert es, dass es eine wahre Freude ist“, sagt der Schmetterlingsforscher, während er dem Weg folgt. Einige Minuten später schaut er nicht mehr ganz so freudig drein. „Hmmm“, brummt der 62-Jährige, schwingt sein Fangnetz mehrmals über den Boden, inspiziert den Inhalt und schüttet ihn wieder aus. „Nur Grassamen“, sagt er.

Es flattert wenig an diesem Spätnachmittag. Hier ein Schachbrettfalter, da ein rotbraunes Wiesenvögelchen. „Allerweltsarten“, sagt der Wissenschaftler der Zoologischen Staatssammlung München. Zuletzt war er 2013 hier. „Da müssten zu dieser Jahreszeit eigentlich zehn Mal so viele sein.“ Kleinschmetterlinge hat er noch keinen einzigen gesehen.

Dabei ist die Garchinger Heide, ein 27 Hektar großes Naturschutzgebiet im Landkreis Freising, bekannt als Heimat auch für seltene Arten. Perlmuttfalter und Bläulinge gehören dazu, aber auch der weißglänzende Grasminierfalter oder der Wippflügel-Falter, die zu den Kleinschmetterlingen gehören – Segerers große Leidenschaft. „Tagschmetterlinge sind gut erforscht“, sagt er. „Bei den Kleinschmetterlingen dagegen gibt es noch viel zu entdecken und genau das weckt meine Neugier.“

Gerade erst hat der Forscher den ersten Teil der Roten Liste für Kleinschmetterlinge in Bayern aktualisiert – mit einem alarmierenden Ergebnis. Etwa die Hälfte der 760 Arten der Zünsler und Wickler sind gefährdet, 53 davon sind ausgestorben oder verschollen, 92 Arten sind vom Aussterben bedroht. Den zweiten Teil der Liste mit weiteren Kleinschmetterlingsfamilien will Segerer bis 2024 vorlegen. „Ich fürchte“, sagt er, „dass wir erneut feststellen werden, dass die Bestände rückläufig sind.“

3320 Schmetterlingsarten leben in Bayern. 176 Arten sind Tagschmetterlinge wie das Pfauenauge oder der Zitronenfalter. Von den weniger bekannten Kleinschmetterlingen gibt es knapp 2100 Arten. Es sind die Schmetterlinge, deren Aussehen Segerer liebevoll als „kleinen, fliegenden Schnupftabak“ beschreibt und die gemeinhin, aber fälschlicherweise, als Motten bezeichnet werden, was wiederum dazu führt, dass Kleinschmetterlinge ein Imageproblem haben. „Bei Motten“, sagt der Forscher, während er tiefer in die Garchinger Heide vordringt, „denkt jeder doch sofort an die Schädlinge. An die Kleider- oder Pelzmotte zum Beispiel.“ Oder an die Lebensmittelmotte, die aber gar keine echte Motte ist, sondern zur Familie der Zünsler gehört. „Fakt ist jedenfalls“, sagt Segerer und schwingt energisch seinen Kescher, „dass 99 Prozent aller Kleinschmetterlinge völlig harmlos sind!“

Dieses Mal ist er erfolgreich. Ein bräunlicher Graszünsler tanzt im Netz. Der Name rührt daher, dass diese Falter vor allem in Gräsern zu finden sind, von denen sie sich auch ernähren. „Dieser ist weit verbreitet und gehört zu den nicht-gefährdeten Arten“, sagt der Forscher, bevor er den Winzling wieder entlässt. Faszinierend seien diese Insekten, sagt er. „Das sind echte Spezialisten und Überlebenskünstler!“ Zum Beispiel der Wasserzünsler, dessen Raupen unter Wasser leben und über kiemenartige Ausstülpungen in der Haut atmen. Oder die Raupen des Sonnentau-Federfalters, die, quasi in der Höhle des Löwen, am fleischfressenden Sonnentau leben. Oder der Schneckenspur-Minierfalter, dessen Raupen so flach sind, dass sie in nur einer einzigen Zellschicht eines Blattes leben. „In wirklich nur einer einzigen Zellschicht“, wiederholt Segerer begeistert. „Ist das nicht wunderbar?“

Viele der oft nur Millimeter großen Schmetterlinge sind nachtaktiv, es gibt aber auch Arten, die tagsüber zu finden sind – oder zu finden sein sollten. „Vielleicht ist es etwas zu windig“, überlegt Segerer laut. Heuer sei aber ohnehin ein „katastrophales Schmetterlingsjahr“. Er könne sich nicht erinnern, jemals so wenige Schmetterlinge gesehen zu haben. „Und ich mache das ja nun schon seit mehr als 30 Jahren.“ Auch der Landesbund für Vogel- und Naturschutz hat heuer nur halb so viele Arten wie im Jahr zuvor gezählt.

Ob dies eine direkte Folge der jüngsten Dürrejahre oder des diesjährigen nassen Frühlings ist, ist unklar. „Schmetterlingsbestände sind immer auch Schwankungen unterworfen“, sagt Segerer. Die langfristige Tendenz hingegen lässt wenig Spielraum für Interpretation. „Wir haben schon viele Arten verloren“, sagt der Wissenschaftler. „Und wir werden noch mehr verlieren, wenn wir nicht endlich etwas gegen das Artensterben unternehmen.“ Er hat eine kleine Baumgruppe erreicht. Hier ist es windgeschützter und hier wird der Forscher fündig. Zuerst geht ihm ein Rispengraszünsler ins Netz, dann ein Grasminierfalter und noch ein Streifenspanner, der zu den Nachtfaltern gehört und selten geworden ist. „Immerhin“, sagt Segerer und macht sich rasch ein paar Notizen.

Auf dem Rückweg fragt er: „Sehen Sie, wie hoch und dicht überall das Gras steht? Das ist Glatthafer, der hier überhaupt nichts zu suchen hat. Das zeigt, wie gefährdet selbst ein Naturschutzgebiet wie die Garchinger Heide ist.“ Die Heidefläche, erklärt er, ist nährstoffarm. Genau das sei der Grund für die hohe Artenvielfalt. Nährstoffreiche Böden befördern das Wachstum von Gras, das alle anderen Wiesenpflanzen verdrängt. „Wer düngt, schafft eine grüne Wüste“, sagt der Wissenschaftler. Dass hier in der Heide so viel stickstoffliebender Glatthafer steht, deutet darauf hin, dass von den umliegenden Äckern über die Luft Düngemittel ins Naturschutzgebiet gelangen. „Diese Entwicklung erfüllt mich mit Sorge“, sagt Segerer und dreht sich noch einmal um. Er will bald wiederkommen, um bei Dunkelheit die nachtaktiven Kleinschmetterlinge zu zählen. „Ich hoffe, ich habe dann mehr Glück.“

Artikel 3 von 4