Kiew – Die Mauer des Schreckens endet nicht. Meter um Meter mit Porträts junger, toter Männer. Geburtsdatum, Sterbedatum, oft keine 25 Jahre dazwischen. „Schau sie an“, sagt Andrii Schewt-schenko, „schau ihnen in die Augen.“ Christian Lindner zwingt sich die Wand entlang, Schritt für Schritt. Mehrfach bleibt Schewt-schenko, der ukrainische Vize-Verteidigungsminister, stehen und erzählt ein paar Sätze zu den Bildern. „Mein jüngerer Bruder“, sagt er vor einem Bild knapp. Am Ende der Wand geht Schewtschenko, ein Bär von einem Mann in sandfarbener Uniform, in die Knie, bekreuzigt sich.
Die Luft flirrt an diesem heißen August-Tag in Kiew, aber in diesem Moment ist die Kälte des Kriegs zu spüren, zu greifen. Die Minuten, in denen Lindner still die Bilder beäugt, dann ein Bündel roter Rosen auf den staubigen Boden an der Gedenkstätte legt, sind die einprägsamsten Momente seiner denkwürdigen Dienstreise in die Ukraine. Zwölf Stunden nur bleibt er in Kiew, sie sind vollgepresst mit Polit-Gesprächen, am nahesten kommt der Bundesfinanzminister und FDP-Chef dem Land wohl an dieser Wand.
Wenige Schritte weiter, auf dem Michaelsplatz, ist zu erahnen, was ohne den Blutzoll der jungen Ukrainer in dieser Stadt passiert wäre. Der Platz steht voll von russischen Panzern, ausgebrannt, zerschossen, tonnenschwerer Schrott: Es sind die Kampfmaschinen, die ukrainische Verteidiger kurz vor der Innenstadt gestoppt haben bei Putins erster Offensive vor anderthalb Jahren. Die Wracks kommen zum Beispiel aus Butscha, Irpin – Vororte Kiews, deren Namen sich für immer durch diesen Krieg in unser Gedächtnis eingebrannt haben. Hier erschossen die Angreifer, ehe sie vertrieben wurden, hunderte wehrlose Zivilisten. „Das bewegt jeden, der menschliche Gefühle hat“, sagt Lindner nach dem Treffen auf dem Michaelsplatz.
Die Reise, bis zur letzten Minute geheim gehalten und nur von einem sehr kleinen Tross begleitet, kann bestenfalls genau das bewirken: Wieder an den Krieg, das Leid, die Nöte der Ukrainer erinnern. Anderthalb Jahre nach dem russischen Überfall schleicht sich, vorerst ganz leicht, eine beginnende Gleichgültigkeit und vereinzelt Skepsis in die deutsche Debatte. Die Ersten murmeln, die Millionen ukrainischen Flüchtlinge seien ja recht gut ausgestattet mit Bürgergeld bei uns, wann sie alle arbeiten oder doch auch wieder nach Hause wollten? Und wann nun allmählich Verhandlungen einsetzen mit den Russen?
Lindner selbst ist keiner der Relativierer. Aber selbst einen Fuß nach Kiew gesetzt, hat er 2020 zuletzt, also vor dem Krieg. Mit seiner aufwendigen Reise – per Regierungsflugzeug nach Ostpolen, per Kleinbus spätabends an die Grenze, in einer zehnstündigen Fahrt im ratternden Nachtzug dann nach Kiew – holt er das nach. Als erster hochkarätiger Besucher aus Deutschland seit einigen Monaten. Vor Ort will er klarmachen: Ihr habt weiter unsere Solidarität. Unermüdlich wiederholt er in Kiew, die Ukraine habe sich für die liberalen Demokratien des Westens entschieden, für eine soziale Marktwirtschaft, „gegen den Oligarchen-Kapitalismus“ – und sei genau deshalb von Putin überfallen worden. „Wir werden das fortsetzen“, sagt er allen, die nach Waffenlieferungen fragen. „Schulter an Schulter.“ Und betont, 22 Milliarden Euro habe Deutschland schon für die Ukraine aufgebracht, davon 12 Milliarden in Form von Militärmaterial. Die Gelder für Geflüchtete sind eingerechnet.
Erstmals spricht er sich auch indirekt für eine Lieferung der Taurus-Marschflugkörper aus. Wegen der enormen Reichweite über 500 Kilometer, als theoretisch bis weit auf russisches Territorium, wird in Berlin noch kontrovers diskutiert, ob Kiew diesen Waffentyp bekommen soll. Er hoffe auf eine baldige Entscheidung, sagt Lindner – und dürfte es als FDP-Chef und Bundesfinanzminister genauer wissen.
Anders als sein Kanzler spricht er auch glasklar aus, wie dieser Konflikt ausgehen soll: „Die Ukraine muss diesen Krieg gewinnen.“ Es sei „auch Teil unserer Verantwortung, dass die Durchhaltefähigkeit der Ukraine immer größer ist als die Bösartigkeit, die von Putins Krieg ausgeht“. Scholz’ Dauer-Diktion ist nur, die Ukraine dürfe „nicht verlieren“. Das ist keine Wortklauberei – sondern am Ende vielleicht der Unterschied, ob die Krim zurückgeholt werden muss oder nicht.
In Kiew erlebt der Gast an diesem Tag manche der unauflösbaren Widersprüche dieses Krieges. Wer nicht gerade neben den Panzerwracks oder an der Totenwand steht, fühlt sich in einer westlichen, wunderschönen, phasenweise fröhlichen Stadt. In Kiew gibt es ja Alltag. Lindners 12 Stunden, oft auch ganze Tage und Nächte vergehen ohne Luftalarm. Selbst wenn die Sirenen heulen, hat sich eine gewisse Routine entwickelt. Anwohner können das Pfeifen der Raketenabwehr und das Knattern der feindlichen Drohnen einordnen, selten nur noch gibt es Einschläge. Manche bleiben sogar im Café sitzen. Die Front ist hunderte Kilometer weiter im Osten und Südosten.
Vitali Klitschko, der Bürgermeister, raunt auf Deutsch, man solle sich von dieser Normalität nicht täuschen lassen. Eine halbe Stunde lang setzen Lindner und er sich in einem Hotel in Kiew zusammen. „Wir zählen darauf, dass unsere Partner die Situation verstehen und dass dies nicht aufgeschoben werden kann“, sagt der Ex-Boxer anschließend.
Die große Ungewissheit über allen Besuchen bleibt. Eine Ahnung, wann der Krieg enden könnte? Lindner hat keine. Seine Gesprächspartner – außer Präsident Selenskyj sind es die wichtigsten Politiker des Landes – auch nicht. Was eher noch auf weitere Jahre als Monate hindeutet. In denen Kriegsrecht gilt, ohne Wahlen, ohne wirklich freie und ungelenkte Medien, mit strenger Ausgangssperre ab Mitternacht und ohne eine Rückkehr der acht Millionen Flüchtlinge, ein Viertel des Volkes.
Lindner will trotzdem schon über nächste Schritte reden. Bei seinem Kollegen Finanzminister, einem jungen Mann in sehr weißen Turnschuhen, spricht er über Wiederaufbau-Investitionen. Er möchte Hilfe vermitteln beim dereinstigen Minenräumen und Bombenentschärfen, für Kampfmittelbeseitigung ist ja sein Ministerium in Deutschland zuständig. Er will über den Zoll ukrainische Beamte schulen. Und er bietet Know-how an beim Privatisieren von Firmen. Ziel ist, dass die Ukraine ihre sehr vielen Staatsbeteiligungen (was Lindner so nie aussprechen würde) korruptionsfrei und ohne neues Oligarchentum umwandeln kann. Der Minister mit den Turnschuhen, Serhi Martschenko heißt er, lächelt höflich, duzt „Christian, den Freund der Ukraine“. Die Realisierung solcher Pläne aber ist fern.
Konkreter wird es, als Lindner in der Stadt auf drei ukrainische Soldaten trifft. Es sind genau jene, die eines der beiden Iris-T-Flugabwehrsysteme bedienen, die Deutschland geliefert hat. Sie sind im August sogar in Deutschland ausgebildet worden. Sie danken ihm, berichten stolz, 180 todbringende russische Raketen mit dem Iris-T-System abgeschossen zu haben. Aber im nächsten Satz: „Wir wollen mehr. Wir brauchen mehr, um unser Land zu schützen.“
Lindner, Reserveoffizier und Major der Luftwaffe, antwortet knapp. „Ich habe verstanden – mehr.“ Das Treffen mit den Soldaten endet aber ganz unmilitärisch. Einer greift sich an den linken Arm, zupft das Iris-T-Abzeichen von der linken Schulter, überreicht es Lindner als Geschenk. Der Minister reagiert gerührt. Er umarmt die Soldaten erst etwas ungelenk, dann aber herzlich.