„Wir haben die Hoffnung nicht verloren“

von Redaktion

INTERVIEW Nahid Shahalimi kämpft von München aus für die Frauen in ihrer Heimat Afghanistan

München – Nahid Shahalimi ist nach dem Tod ihres Vaters als Zehnjährige mit ihrer Familie aus Afghanistan geflüchtet. Seit 20 Jahren lebt sie als Künstlerin und Autorin in München. Mit ganzer Kraft setzt sie sich für die Frauen in ihrer Heimat ein – besonders seit dem 15. August 2021, als die Taliban in ihrer Heimat die Macht übernahmen. Die 50-Jährige berichtet, wie der Alltag der Afghaninnen seitdem aussieht – und warum sie trotzdem Hoffnung hat.

Sie sind als Kind aus Afghanistan geflüchtet. Ist das Land für Sie immer noch Heimat?

Ja, wird es immer sein. Jedes Wort hat für mich eine andere Bedeutung, wenn ich es in Dari sagen kann. Man kann Menschen aus Afghanistan verjagen, aber nicht Afghanistan aus den Menschen.

Wie erinnern Sie sich an das Land Ihrer Kindheit?

Ich habe nur schöne, friedliche Erinnerungen. Obwohl es nicht friedlich war, schon damals gab es Krieg. Aber die Menschen waren glücklich mit dem, was sie hatten. Wir haben mit Zufriedenheit und Respekt gelebt. Ich erinnere mich an Frauen in Miniröcken, andere waren komplett verschleiert. Diese Diversität finde ich schön. Als Kind war Afghanistan für mich der schönste Ort der Welt.

Wie ging es den Frauen? Hatten sie Rechte?

Ja, hatten sie. Durch das privilegierte Leben meiner Familie hatten wir Kontakt zu vielen Frauen in wichtigen Positionen. Ärztinnen, Lehrerinnen, Politikerinnen, Geschäftsfrauen. Sie arbeiteten in allen Bereichen der Gesellschaft. Das war normal.

Wie haben Sie die Machtübernahme der Taliban vor zwei Jahren erlebt?

Die Machtübernahme kam für mich nicht überraschend. Mir war klar, dass es nur eine Frage der Zeit ist, bis das Land fällt. Aber die Art und Weise, wie es passierte, war schockierend. Die Afghanen sind stolze Menschen, nie wollten sie die internationale Gemeinschaft für immer in ihrem Land haben. Aber wie verantwortungslos sie sich zurückgezogen und den Taliban das Land überlassen hat, hätte niemand gedacht.

Was haben Sie in diesen Tagen in Bayern getan?

Ich habe damals tagelang telefoniert, mit allen Frauen im Land, zu denen ich einen Kontakt hatte. Ich habe versucht herauszufinden, wer noch am Leben ist, wer es in ein Flugzeug geschafft hat, wer Hilfe braucht. In Afghanistan war absolutes Chaos ausgebrochen. Dann habe ich begonnen, ein Buch über die afghanischen Frauen zu schreiben. Weil ich merkte, dass nur nichtafghanische Experten gehört wurden. Die ersten Gespräche für das Buch habe ich etwa zehn Tage nach der Machtergreifung geführt. Damals hatte kaum eine der Frauen Worte für das, was passiert war. Nichts hat uns so sehr gebrochen wie der 15. August. Das liegt zwei Jahre zurück. Unsere schlimmsten Befürchtungen sind wahr geworden. In den nächsten Jahren wird es keine Frauen mehr geben, die Abschlüsse machen und Anwältin oder Ärztin werden.

Ist die nächste Generation der Afghaninnen verloren?

Nein, das will ich so nicht sehen. Die Frauen in Afghanistan tragen jetzt eine schwere Bürde. Diese Last ist manchmal überwältigend. Aber wir haben die Hoffnung nicht verloren. Es wird immer Frauen geben, die all den Restriktionen trotzen. Einige werden das mit ihrem Leben bezahlen. Trotzdem werden sie für ihre Freiheit kämpfen.

Sie sind mit vielen Frauen dort in Kontakt. Wie sieht deren Alltag aus?

Es ist eine schwere Zeit für afghanische Frauen. Was dort gerade passiert, ist nichts anderes als Gender-Apartheid. Viele Familien hungern. Und trotzdem ist das, was sich die Frauen am meisten wünschen, Freiheit und Bildung. Sie dürfen das Haus ohne männliche Begleitung nicht verlassen, sie dürfen keine Universitäten mehr besuchen, sie dürfen nicht in allen Berufen arbeiten. Doch die afghanischen Frauen sind mutig – und kreativ.

Haben die Frauen denn kommen sehen, was sie erwartet?

Es gab sicher einige, die die Machtübernahme erwartet haben. Und die wussten, dass sie die Ersten sein würden, die verfolgt werden. Aktivistinnen zum Beispiel, viele von ihnen sind getötet worden. Schon in den Jahren vor 2021 wurden Dörfer komplett ausgelöscht, die Taliban nahmen ganze Regionen ein. Trotzdem liefen viele gute Projekte. Ich wollte im Sommer 2021 nach Afghanistan reisen. Doch eine Freundin sagte mir schon am Anfang des Jahres, dass ich mich beeilen solle, weil die Taliban bald die Macht übernehmen werden. Die Spannung war schon lange zu spüren. Die internationale Gemeinschaft hatte Afghanistan schon aufgegeben – und diese Entscheidung wird die westliche Welt irgendwann einholen.

Wie meinen Sie das?

Die Taliban sind Terroristen. Wir sprechen viel darüber, was aus den Mädchen wird, die keine Schulen besuchen dürfen – und das müssen wir auch. Aber wir sollten auch darüber nachdenken, was die Jungen seit 2021 in den Schulen lernen. Ich glaube nicht, dass es Mathematik ist. Es gibt Rekrutierungen der Taliban im ganzen Land, dafür gibt es Beweise. Was machen wir, wenn eine ganze Armee an Extremisten entsteht? Es geht um mehr als um Afghanistan. Die Demokratie und der Weltfrieden stehen auf dem Spiel.

Gibt es noch Hoffnung für Afghanistan?

Ja, und die dürfen wir nicht aufgeben. In den vergangenen Jahrzehnten haben die Frauen Selbstbewusstsein entwickelt. Sie haben studiert und viel erreicht. Das ist eine Saat, die gepflanzt ist. Es gibt viele mutige Frauen in Afghanistan, die das aufrechterhalten – auch mit der Gefahr, dafür Schläge zu bekommen oder sogar getötet zu werden. Aber es kostet so viel Kraft und mentale Stärke, das auszuhalten. Die Frauen träumen von der Freiheit, die man ihnen genommen hat. Die Hoffnung ist noch da, jetzt geht es aber darum, den Alltag zu überleben.

Welche Hilfe aus dem Ausland ist gerade möglich?

Es gibt noch viele gute Projekte, die weiterlaufen und die man unterstützen kann. Aber das Wichtigste ist, den Frauen eine Stimme zu geben. Auch wenn es für sie gefährlich ist, sie können auch ohne Namen und ohne Gesicht erzählen, was in ihrem Land passiert. Sie sind noch erreichbar über Twitter oder andere Soziale Medien.

Hat der Westen Afghanistan aufgegeben?

Ja, ich denke schon. Die westlichen Länder reden sich ein, sie hätten alles getan, was sie konnten. Jetzt liege es an den Menschen dort, was sie aus der Situation machen. Aber die Afghanen durften 20 Jahre lang keine Entscheidungen treffen. Es gibt gerade so viele Probleme auf der Welt. Ich verstehe auch, dass der Krieg in der Ukraine für Europa näher ist. Aber das Schweigen über die Situation in Afghanistan tut mir in tiefster Seele weh. Es ist das einzige Land der Welt, in dem Frauen Bildung verboten wird.

Denken Sie darüber nach, welches Leben Sie führen würden, wenn Sie nicht geflüchtet wären?

Ja, sehr oft. Ich bin dankbar für die tragischsten Momente in meinem Leben. Es war schlimm, meinen Vater und meine Heimat zu verlieren. Aber ohne die Flucht wäre ich nicht der Mensch, der ich heute bin. Es war die wichtigste Lektion meines Lebens, dass man es schaffen kann, immer wieder auf die Füße zu kommen. Das macht mir auch für die Frauen in Afghanistan Hoffnung.

Sie haben zwei Töchter. Was geben Sie ihnen mit?

Sie sind 18 und 21 und sie verfolgen sehr intensiv, wofür ich mich einsetze. Mein Ziel war es immer, ihnen starke Flügel zu geben, die sie dorthin tragen, wohin sie wollen. Ich wollte sie immer zu guten Menschen erziehen. Und ich habe ihnen beigebracht, dass Stärke, Freiheit, Respekt und Würde keine Selbstverständlichkeit sind. Das wir dankbar sein müssen dafür, dass wir in einer Demokratie mit Menschenrechten leben dürfen. Für viele Menschen ist es nicht mal eine Selbstverständlichkeit, Bücher lesen zu dürfen.

Interview: Katrin Woitsch

Artikel 4 von 4