„Viele haben von der Zeit eine völlig falsche Vorstellung“

von Redaktion

INTERVIEW LMU-Forscher erklärt, wie Mittelaltermythen entstanden – und warum die deutsche Reichsgeschichte neu geschrieben wurde

München – Edle Ritter, mächtige Könige, jede Menge Gemetzel: Klischees über das Mittelalter sind weit verbreitet – und häufig falsch. Dr. Markus Krumm lehrt und erforscht mittelalterliche Geschichte am Historischen Seminar der LMU und erklärt, warum die deutsche Mittelaltergeschichte in den letzten 30 Jahren neu geschrieben wurde.

Ob „Game of Thrones“ oder „Herr der Ringe“ – es herrscht eine Faszination für mittelalterlich angehauchte Stoffe. Warum?

Das ist oft eher eine Faszination für spannende Geschichten. Mittelalterliche Settings eignen sich dafür gut. Aber nur die Wenigsten befassen sich wirklich mit der Epoche. Es ist kaum Wissen darüber vorhanden – auch, weil es an Schulen wenig gelehrt wird.

Wir alle haben Vorstellungen vom Mittelalter: eine brutale, ungebildete Zeit …

Solche Vorstellungen sind tief verwurzelt – und wurden über Jahrhunderte kultiviert.

Wie kam es dazu?

Das fängt bereits mit der Idee an, dass es das Mittelalter als in sich geschlossene Epoche gegeben hat, eine irgendwie defizitäre Zeit zwischen Antike und Neuzeit. Die Anfänge dieser Vorstellung reichen sogar in die Jahrhunderte zurück, die wir heute als mittelalterlich ansehen. Im 14. Jahrhundert etwa verfolgten die Humanisten ein Bildungsideal, das auf der Antike fußte – und stellten das Mittelalter im Gegensatz dazu als Zeit des kulturellen Verfalls dar. Auch die Reformation zeichnete ein düsteres Bild vom Mittelalter – vor allem, um das Feindbild eines bösen, totalitären Papstes zu schüren.

Das Mittelalter war also gar nicht so finster?

Die Idee, dass es sich um eine ignorante und bildungsferne Zeit handelte, ist falsch. Im Mittelalter wurden die ersten Universitäten gegründet, ohne mittelalterliche Gelehrte wüssten wir heute viel weniger, etwa über die Antike. Es hält sich der Mythos, die mittelalterliche Kirche habe die Scheibengestalt der Erde gelehrt. Das ist Unsinn!

Woher kommen die positiven Klischees, die heute ja ebenfalls kursieren?

Vor allem aus dem 19. Jahrhundert. Mit der einsetzenden Moderne sehnten sich die Romantiker zurück in eine vermeintlich einfachere Epoche: mit edlen Rittern, die für das Gute eintreten. Im aufkommenden Nationalismus wurde das Mittelalter regelrecht gefeiert. Im mittelalterlichen Reich schien ein deutscher Nationalstaat verwirklicht, den sich viele im Bürgertum des 19. Jahrhunderts wünschten. Vor diesem Hintergrund sahen Historiker die Aufgabe der römisch-deutschen Kaiser des Mittelalters vor allem darin, einen starken Nationalstaat zu verwirklichen – was anachronistisch gedacht ist. Spätestens mit der Gründung des Deutschen Reichs 1871 wollte man deutsche Stärke und Vormachtstellung in Europa historisch legitimieren. Wohin solches Gedankengut führt, haben wir im 20. Jahrhundert gesehen.

Sind wir heute schlauer?

Die Mittelalterforschung hat in den letzten 30 Jahren die Darstellung der Reichsgeschichte kritisch hinterfragt und quasi komplett neu geschrieben. Doch die alten Bilder verschwinden nicht so schnell. Etwa die große ZDF-Produktion „Die Deutschen“ transportierte – sicher ohne böse Absicht – überholte Vorstellungen.

Gibt es Verzerrungen auch in Bayerns Geschichte?

Ja – nehmen wir die Agilolfinger, das erste bayerische Herzogsgeschlecht. Hier existierte lange die Vorstellung einer machtvollen Dynastie an der Spitze Bayerns, die als familiäre Einheit agierte. Neuere Forschung zieht das in Zweifel. Bei den Agilolfingern handelt es sich wohl auch eher um ein gedankliches Konstrukt.

Was wissen wir heute besser über die Motive der Mächtigen im Mittelalter?

Es handelte sich um eine andere Gesellschaft, geprägt von Rangordnung und Ehrvorstellungen. Für die Könige, deren vorrangige Aufgabe es war, Frieden herzustellen, galt es, Konflikte gütlich zu lösen, so dass alle ihr Gesicht wahren konnten. Viele glauben, im Mittelalter sei immer brutal aufeinander eingedroschen worden. Stattdessen gab es Vermittlungstechniken, mit denen Konflikte immer wieder unblutig beendet wurden.

Interview: Johannes Patzig

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