Moskau – Sichtlich unbeeindruckt vom Absturz des Privatjets von Söldnerchef Jewgeni Prigoschin, zieht Kremlchef Wladimir Putin seine Termine durch. Als sich die Meldungen vom Tod des Anführers der Privatarmee Wagner im Gebiet Twer überschlagen, gedenkt Putin am Mittwochabend im Gebiet Kursk stolz der siegreichen Schlacht vor 80 Jahren während des Zweiten Weltkriegs. Am Donnerstag nimmt er per Video am Brics-Gipfel in Johannesburg teil. Und während alle Welt rätselt, wer oder was die Embraer 600 zum Absturz brachte, und sich die Augen der internationalen Gemeinschaft auf Putin richten, herrschte zunächst Schweigen im Kreml.
Erst am Donnerstagabend hat Putin den Tod Prigoschins indirekt bestätigt. Er nannte ihn einen „talentierten Menschen“ mit einem schwierigen Schicksal, wie russische Agenturen am Donnerstag meldeten. Putin formulierte vorsichtig, dass ersten Erkenntnissen zufolge am Vorabend ein Flugzeug mit Angehörigen der Privatarmee Wagner abgestürzt sei. Wagner habe einen wichtigen Beitrag in den Kämpfen in der Ukraine geleistet, der nicht vergessen werde.
Putin sprach den Angehörigen sein Beileid aus. Er kündigte eine umfassende Aufklärung des Absturzes an. Diese habe bereis begonnen, werde aber eine Zeit lang dauern, sagte er bei einem Treffen mit dem russischen Verwaltungschef von Donezk, Denis Puschilin.
Schon lange galt der Wagner-Chef trotz seiner engen Verbindungen zu Putin der Elite als Ärgernis, weil er „Speichelleckerei“, „Korruption“ und „Duckmäusertum“ im Machtapparat anprangerte. Vor allem der Militärführung um Verteidigungsminister Sergej Schoigu und Generalstabschef Waleri Gerassimow warf er öffentlich Versagen vor in dem von russischen Niederlagen überschatteten Krieg.
Dem Kreml komme Prigoschins Tod durchaus gelegen, hieß es in vielen russischen Kommentaren. Feinde hatte Prigoschin viele – in Russland und international. Der Todesgefahr war sich der Geschäftsmann stets bewusst, der in Syrien und vor allem in afrikanischen Staaten in Konflikten mitmischte und zu Reichtum kam.
Der Kreml werde nun kaum etwas unternehmen gegen das entstandene „Bild, dass es sich um einen Akt der Vergeltung“ handelt, meint die Politologin Tatjana Stanowaja. Damit werde einmal mehr gezeigt, wie mit Verrätern umgegangen werde in Russland. „Der Tod Prigoschins soll eine Lehre für alle potenziellen Nacheiferer sein“, schrieb sie bei Telegram auch mit Blick auf den Aufstand des Wagner-Chefs vor genau zwei Monaten gegen Moskaus Militärführung.
Prigoschin, der am Ende als Verräter galt, hat sich zwar nach der Revolte noch mit Putin im Kreml getroffen und beteuert, er strebe keinen Machtwechsel an. Aber das Vertrauen war da längst zerstört. Putin sprach am Tag des Aufstands von einem „Stoß in den Rücken“. Der frühere Geheimdienstchef, dem oft Methoden wie in Mafiakreisen nachgesagt werden, vergisst solch eine öffentliche Bloßstellung nie.
Stanowaja meint, Putin habe zuletzt keinen Nutzen mehr gesehen in Prigoschin. Die Expertin erwartet, dass Russland seine Interessen etwa in Afrika auch ohne den dort einflussreichen Strippenzieher wahrnehmen kann. Putin selbst hatte bei dem Treffen im Kreml auch vorgeschlagen, dass der Wagner-Mitbegründer Andrej Troschew, ein Held Russlands, die Armee übernehmen könnte. Prigoschin lehnte das ab. Der 61-jährige Troschew dürfte nun im Spiel sein.
Und Putin geht damit wohl als vorläufiger Sieger aus dem Machtkampf hervor, nachdem ihm im Zuge des Putschversuchs noch Schwäche attestiert wurde. Übel nahmen ihm auch viele Russen, dass er die Wagner-Aufständischen ungestraft laufen ließ, obwohl sie etwa sechs Hubschrauber und ein Flugzeug abschossen und hoch angesehene russische Piloten töteten. Einige dürften den Absturz des Wagner-Jets als eine Wiederherstellung der Gerechtigkeit auffassen.
Putin hat in der Wahrnehmung der Elite schon oft wieder an Ansehen gewonnen, wenn er sich rigoros seiner Gegner entledigte. Die englischsprachige Enzyklopädie Wikipedia führt sogar eine Liste an Geschäftsmännern und Oligarchen, die auf mysteriöse Weise ums Leben gekommen sind – und sich zuvor oft Putin-kritisch geäußert hatten (siehe Text unten). Viele, die seine Macht infrage stellten, haben das mit dem Leben bezahlt oder sitzen wie der Kremlgegner Alexej Nawalny jahrelang in Haft. Aber auch Putins Vertraute wie der Verteidigungsminister Schoigu und Generalstabschef Gerassimow dürften nun erleichtert sein, dass einer ihrer schärfsten Kritiker von der Bildfläche verschwunden ist. Sie hatten zuletzt zahlreiche Generäle, die als Verbündete Prigoschins galten, aus dem Weg geräumt.
Öffentlich hinterfragen wird die Machenschaften des Kremls in Russland niemand, weil auch die Medien weitgehend unter staatlicher Kontrolle stehen. Für das Staatsfernsehen, das immer wieder über Flugzeugabstürze im größten Land der Erde berichten muss, kam die Nachricht erst vergleichsweise weit hinten – nach der Lage in den russischen Überschwemmungsgebieten und hinter Putins Terminen.
Viele Russen glauben indes auch angesichts fehlender Beweise für Prigoschins Tod, dass sich der Wagner-Chef womöglich in einem Deal mit Putin nun einen Abgang verschafft haben könnte, um unter neuer Identität woanders zu leben. Hinweise darauf gibt es aber nicht.
Vielmehr äußerte der Politologe und frühere Redenschreiber Putins, Abbas Galljamow, die Meinung, dass der Kremlchef durch die Tötung seines früheren Vertrauten vor allem weiter Angst säe. Erstmals sei ein Patriot und Quasi-Vertreter des Systems Putin aus dem Weg geräumt worden, der öffentlich die Wahrheit gesagt habe. Damit wolle Putin zwar Stärke beweisen, in den Augen der öffentlichen Meinung aber stehe er als Schwächling da. „Ein Mord im Schutze der Nacht schmückt einen Herrscher nicht. Es entsteht vielmehr ein unangenehmer Geruch der Heimtücke und Feigheit.“