„Ich hätte den Staatsschutz informiert“

von Redaktion

Der Präsident des Deutschen Lehrerverbands, Stefan Düll, über die Reaktionen auf Antisemitismus an Schulen

Neusäß – Stefan Düll ist nicht nur Schulleiter des Justus-von-Liebig-Gymnasiums in Neusäß (Kreis Augsburg) und Präsident des Deutschen Lehrerverbands (DL). Der 58-Jährige ist auch Geschichtslehrer. Würde heute ein antisemitisches Flugblatt wie das Pamphlet, das vor 35 Jahren in der Schultasche von Hubert Aiwanger gefunden wurde, an seiner Schule auftauchen, „denke ich, dass ich den Staatsschutz informiert hätte, um darauf hinzuweisen, dass solche Flugblätter existieren“. Ob sie schon verteilt worden sind oder in zigfacher Ausfertigung existieren, das wüsste er ja nicht – das seien ja bis heute die ungeklärten Fragen im Fall Aiwanger.

35 Jahre nach den Vorfällen am Burkhart-Gymnasium in Mallersdorf-Pfaffenberg würde an einem bayerischen Gymnasium heute anders vorgegangen. Der 17-jährige Aiwanger sollte als disziplinarische Maßnahme ein Referat übers Dritte Reich halten (wir berichteten). Düll unterstreicht, dass grundsätzlich der Einzelfall zu betrachten sei. „Man muss sich anschauen, inwieweit beim Schüler oder der Schülerin eine Vorgeschichte da ist, etwa einschlägige, extremistische Geschichten.“ Wenn es sich um etwas handele, das gegen das Strafgesetz verstößt, sei die Schule zur Anzeige verpflichtet. Die Rechtslage sei schwierig, sagt Düll: Das Pamphlet sei „ja nur“ beim Schüler gefunden worden. „Was diese Person mit dem Flugblatt zu tun hat, weiß ich gar nicht.“ Der bloße Besitz sei nicht strafbar. „Das ist anders als bei Kinderpornografie – wenn ich die besitze, ist das strafbar.“

Bei einem vergleichbaren Fall würde Düll auch die Eltern informieren – selbst bei einem volljährigen Schüler. „Das ist ja etwas, das den weiteren schulischen Lebensweg betreffen kann.“ Die Eltern könnten vielleicht etwas beisteuern, um die Sachlage zu klären. Man müsse verschiedene Informationen zusammenholen und dann entscheiden, welche Erziehungsmaßnahmen man ergreift. „Man kann das mit einem solchen Referat machen – es hängt von den Umständen ab.“ Düll weist aber auch darauf hin, dass er rechtlich keine Schultasche durchsuchen darf – es sei denn, es sei unmittelbare Gefahr für Leib und Leben, etwa wenn eine Bombe vermutet werde. „Ich könnte den Schüler nur fragen, ob er die Tasche öffnet.“ Wenn nicht, kann er nur die Eltern informieren. Wenn von einer schweren Straftat ausgegangen werde, müsse er die Polizei einschalten. Grundsätzlich gelte: Alles, was gegen Recht und Gesetz verstößt, ist bei den Strafverfolgungsbehörden anzuzeigen. Aber: „Schule ist keine Strafverfolgungsbehörde. Wir ergreifen pädagogische, erzieherische Maßnahmen – und Ordnungsmaßnahmen bis hin zur Entlassung aus der Schule.“ Grundsatz sei, mit der niedrigst möglichen Maßnahme eine dauerhafte Verhaltensänderung zu bewirken.

Düll selber hat 1984 sein Abitur gemacht. Damals habe man sich sehr intensiv mit der Geschichte des 20. Jahrhunderts auseinandergesetzt, erinnert er sich. „Ich gehe davon aus, dass die Schulen grundsätzlich genauso drauf waren wie heute. Vielleicht nicht ganz so sensibilisiert, weil antisemitische Vorkommnisse vermutlich selten waren.“ Eigentlich hätten die Pädagogen damals aber ein Gespür für die Brisanz des Flugblatts haben müssen. Vielleicht sei aber einfach nicht bekannt, ob damals nicht doch die Polizei informiert worden ist.

Antisemitische Vorfälle gebe es an allen Schulen – ob es das in den Tisch geritzte Hakenkreuz sei oder ein Fünftklässler den Hitlergruß zeige. Zahlen dazu gibt es nicht. Wenn an Dülls Schule ein 16-jähriger den Hitlergruß zeigen würde, „nehmen wir ihn ins Gebet, informieren die Eltern, gegebenenfalls schalten wir die Polizei ein“. Und dann werde in der Klasse aufgearbeitet, warum der Staat das unter Strafe stellt. Laut dem Kultusministerium wurde ein umfangreiches Unterstützungsportal eingerichtet, das den Schulen bei antisemitischen Vorfällen präventive und interventionistische Handlungsoptionen vorschlägt. Zudem gebe es 26 Regionalbeauftragte für Demokratie und Toleranz, die kontaktiert werden könnten. CLAUDIA MÖLLERS

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