München – Die Zeiten, in denen der Sonntagvormittag dem Kirchgang vorbehalten war, sind auch im bürgerlichen Regierungsbündnis des Freistaats vorbei. Die Einladung zur Pressekonferenz kommt am Sonntagmorgen um 7.52 Uhr. „Aus aktuellem Anlass“ werde sich Markus Söder um 11 Uhr äußern. Bei Journalisten schrillen die Alarmglocken. Solche Vorzeichen deuten eigentlich auf eine Entlassung von Hubert Aiwanger hin. Erst recht nach so einer Woche.
Doch der zweite Blick weckt Zweifel: Denn auch der Chef der Freien Wähler hat einen Vormittagstermin an diesem Sonntag. Ebenfalls nicht in der Kirche, sondern im Keferloher Bierzelt in Grasbrunn (Landkreis München). Und dass ein Minister entlassen wird, während er parallel vor hunderten Zuhörern spricht, hat es sogar in Bayern noch nie gegeben. Wobei: In dieser Koalition, die sich bis vor Kurzem noch als seriöser Gegenentwurf zur chaotischen Ampel in Berlin gerierte, scheint in diesen Tagen vieles möglich.
Doch Aiwanger ist auch noch im Amt, als er nach seiner Rede von der Keferloher Bierzeltbühne steigt. Gefeiert von seinen Anhängern. Erneut spricht der Wirtschaftsminister von einer gescheiterten Schmutzkampagne. Es sei versucht worden, die Freien Wähler zu schwächen und ihn selbst politisch zu „ertränken“. Man habe aber ein „sauberes Gewissen“. Viel mehr will er zu den Vorwürfen nicht sagen. „Für so einen Käse habe ich keine Zeit.“ Jubel, Applaus, Zustimmung.
Im Prinz-Carl-Palais, gleich neben der Staatskanzlei, herrscht zur gleichen Zeit eine komplett andere Stimmung. Es ist völlig still, als Söder vor einem guten Dutzend Kameras beginnt. „Ich habe eine Entscheidung getroffen.“ Er möchte die Beobachter „teilhaben lassen an seinem Abwägungsprozess“, sagt er. Noch einmal die klare Distanzierung vom Flugblatt („besonders eklig, widerwärtig, menschenverachtend und absoluter Nazi-Jargon“). Noch einmal viele kritische Worte über den Koalitionspartner. Aiwangers Krisenmanagement sei „nicht sehr glücklich“ gewesen. Die Entschuldigung sei spät gekommen. Aber immerhin: nicht zu spät. Die Antworten zu den 25 Fragen waren „nicht alle befriedigend“. Es sei „wenig Neues“ rausgekommen.
Warum also dann die Entscheidung? Söder führt fünf Punkte an: „Erstens: Er hat in seiner Jugend wohl schwere Fehler gemacht, das auch zugestanden. Er hat sich dafür zweitens entschuldigt, davon distanziert und auch Reue gezeigt. Drittens: Einen Beweis, dass er das Flugblatt verfasst oder verbreitet hat, gibt es bis heute nicht, dagegen steht seine ganz klare Erklärung, dass er es nicht war. Viertens: Seit dem Vorfall von damals gibt es nichts Vergleichbares. Fünftens: Das Ganze ist in der Tat 35 Jahre her. Kaum einer von uns ist heute noch so, wie er mit 16 war.“ Nachfragen, am Ende gar kritische, lässt Söder lieber nicht zu.
Das ist also das Ergebnis eines Wochenendes, an dem Söder viel gegrübelt und noch mehr telefoniert hat (siehe unten). Die 25 Antworten, die ihm Aiwanger übermittelt hat, haben ihn keineswegs überzeugt. Aber die Rückmeldungen von der Basis vor allem auf dem Land, sprechen zu eindeutig gegen eine Entlassung. Am Samstag ist er vormittags selbst noch in einem Festzelt in Aubing unterwegs. Nachmittags beginnt dann der Showdown. Erst gibt es ein langes persönliches Gespräch zwischen Söder und Aiwanger. Unter vier Augen. Dann tagt der Koalitionsausschuss. Acht Personen sitzen am Tisch. Die Partei- und Fraktionsvorsitzenden. Dazu die Minister Piazolo, Glauber (beide FW), Staatskanzleichef Herrmann und Finanzminister Füracker (beide CSU). Bis 22 Uhr dauern die Gespräche. Schon da erfährt Aiwanger von Söders Entscheidung. Am Ende sei es richtig harmonisch zugegangen, behauptet ein Teilnehmer.
Ob das hält, ist eine andere Frage. Alle sind sich einig, dass man vor der Wahl jetzt Ruhe braucht. Was nach dem 8. Oktober geschieht, steht auf einem anderen Blatt. Die Ersten in der CSU träumen schon von einem Bündnis ohne Aiwanger, oder wenigstens ohne ihn als Minister. Aber da muss der Koalitionspartner mitspielen. Darauf deutet bislang nichts hin.
Wie viel ist jetzt noch da an Gemeinsamkeit? Gibt es noch Reste von Vertrauen? An diesem Sonntag wirkt es, als halte höchstens noch die Abneigung gegen die Grünen das Bündnis zusammen. Aiwanger betont das in seinem Zelt: „Bayern wird auch im Herbst von Freien Wählern und der CSU regiert werden. Die Freien Wähler stehen als Garant dafür, dass die Grünen nicht in die Regierung kommen.“ Man wolle nicht, dass die Grünen das Land herunterwirtschaften. „Wir sehen ja, was für einen Mist die in Berlin anrichten.“
Und auch Söder schaltet am Schluss seines staatstragenden Statements unerwartet in den Wahlkampfmodus. „Wir werden in Bayern die bürgerliche Koalition fortsetzen können“, sagt er. „Es wird definitiv in Bayern kein Schwarz-Grün geben. Und alle Angebote der Opposition, die jetzt so gemacht werden, laufen ins Leere.“
Plötzlich sind Söder und Aiwanger wieder ganz eng beisammen. Heute Vormittag treffen sie sich übrigens am Gillamoos in Abensberg wieder, einem Wahlkampf-Spektakel in Niederbayern. Auf dem Volksfest werden sie wieder gleichzeitig sprechen. In benachbarten Zelten.