„Oma, ich habe jemanden totgefahren“

von Redaktion

VON ANDREAS THIEME

München – Für einen kurzen Moment verliert Maria L. die Fassung. Tränen laufen der 50-Jährigen über das Gesicht, ihre Stimme stockt, dann wird es ganz still im Saal B 175 des Strafjustizzentrums in München. „Ich hatte solche Angst um meine Tochter“, sagt Maria L., als sie sich wieder fängt. „Wie angreifbar das eigene Leben ist: Das merkt man erst, wenn es um die eigenen Kinder geht.“

Betrügerbanden machen sich das längst zunutze. Am Telefon erzählen sie, einem Angehörigen drohe das Gefängnis, weil er einen tödlichen Unfall verursacht habe – was nur durch eine hohe Kautionszahlung in bar abzuwenden sei. Als „Schockanruf“ ist diese Betrugsart zwar bekannt – doch die Zahlen steigen immer stärker an. Von Januar bis Ende August lag der finanzielle Schaden in München bereits bei 1,216 Millionen Euro, wie unsere Zeitung exklusiv vom bayerischen Justizministerium erfahren hat. Zum Vergleich: 2022 betrug der Schaden des gesamten Jahres 1,786  Millionen Euro. Der Wert wird heuer wohl deutlich übertroffen werden.

Warum, zeigt auch die Geschichte von Maria L. Etwa 30 Minuten lang berichtet die Pädagogin vor Gericht, wie sie vergangenes Jahr im November einen solchen Schockanruf erhielt: „Ihre Tochter hat einen Verkehrsunfall verursacht“, berichtete eine angebliche Kommissarin gegen über L. am Telefon. Die Opfer seien in Lebensgefahr.

Opfer werden stark unter Druck gesetzt

„Da wird in kürzester Zeit enormer Stress aufgebaut“, sagt Maria L. „Ich war im Sorgenrausch und wollte zunächst mit meinem Anwalt sprechen.“ Doch das sei nicht möglich, teilte ihr die Anruferin mit – denn die Zeit dränge, die Tochter werde gleich dem Haftrichter vorgeführt.

Schnell läuft die Situation darauf hinaus, dass Maria L. Geld zahlen soll. Angeblich eine Kaution, um die Haft der Tochter noch abwenden zu können. Ein Kollege der Anruferin bestätigt die Version, im Hintergrund hört man eine junge Frau heftig weinen. „Man kann kaum noch einen klaren Gedanken fassen und ist tatsächlich in einer Art Schockstarre“, sagt Maria L.

So wie sie werden die meisten Betrugsopfer abgefertigt. „Das geht alles sehr, sehr schnell“, erinnert sich die Pädagogin. Ihr Wunsch, die Tochter kurz zu sprechen oder noch einmal sehen zu können, wird abgelehnt. Sie probehalber einfach anzurufen – darauf kommen Betroffene in diesen Situationen nur selten. Zu tief sitzt der Schock, zu echt klingt die Geschichte. Deshalb sind viele Betroffene bereit zu zahlen.

„Hier werden ganz gezielt die Gutgläubigkeit und die Sorgen von älteren Menschen ausgenutzt, um sie zu schädigen. Solche Taten sind verwerflich“, sagt Bayerns Justizminister Georg Eisenreich, 52, CSU. Ein Teil der Kriminellen suche gezielt Senioren als Opfer – etwa anhand von Vornamen, bei denen vermutet wird, dass sie zu älteren Menschen gehören. „Die Folgen dieser Taten können für die Opfer erheblich sein, nicht nur finanziell, sondern zum Teil auch gesundheitlich, bis hin zu Angstzuständen und Depressionen.“

Die Täter seien Profis und „hochspezialisiert“, warnt Eisenreich. „Das sehen wir auch bei anderen Arten von Verbrechen. Die Täter sind psychologisch geschult, um am Telefon Bindungen zu ihren Opfern aufzubauen. Wir haben es hier also mit einem immer stärker professionalisierten Vorgehen zu tun.“

Das hat auch Roswitha K. erlebt. „Oma, du musst mir helfen. Ich habe eine Frau totgefahren“, weinte ihre Enkelin am Telefon – diese Geschichte wollten Betrüger der Seniorin glauben machen. Auch die 85-Jährige war „geschockt“, wie sie am Landgericht als Zeugin berichtet. Am Telefon habe ihr ein angeblicher Oberstaatsanwalt berichtet, dass die Enkelin nun dem Haftrichter vorgeführt werde. „Ich war starr vor Angst“, sagt die Seniorin. „Denn meine Enkelin hatte gerade ihren Uni-Abschluss gemacht, ihr Leben lag doch noch vor ihr.“ Erst nach einer Viertelstunde am Telefon dämmert der Seniorin, dass etwas faul ist. „Ich sollte 150 000 Euro Kaution für meine Enkelin zahlen. Und zwar sofort, um die Haft noch abzuwenden. Aber wer hat so viel Geld zuhause? Ich zumindest nicht.“

Verzweifelt erbittet sich Roswitha K. Zeit, um ihr Geld daheim zu zählen. Kurz darauf der nächste Anruf. „Nun wurde ich gebeten, das Geld in einen Sack zu stecken und vor die Haustür zu legen. Als ich das ablehnte, wurde ich aufgefordert, Geld in die Ettstraße zu bringen.“ Also zum Polizeipräsidium. „Doch als ich gesagt habe, das mache ich nicht, wurde einfach aufgelegt.“ Ähnlich endete auch die Geschichte von Maria L.: Hier flog der Betrug auf, als sie den Anrufer bat, die Ettstraße doch bitte zu buchstabieren. „Als der vorgebliche Polizist das nicht konnte, wurde ich dann schon sehr stutzig.“

Bei anderen Betroffenen kam diese Erkenntnis zu spät: Inge P. (Name geändert) fiel auf die Masche herein. Die 88-Jährige verlor mehr als 20 000 Euro. Auch ihr erklärte ein angeblicher Oberstaatsanwalt am Telefon, dass er „eine traurige Nachricht“ für sie habe: Ihre Tochter hätte mit dem Radl eine junge Mutter und deren Kleinkind angefahren, die dadurch auf die Straße gefallen wären – ein Auto hätte beide schwer verletzt.

Die Täter sitzen oft im Ausland

Abholer Mariusz P. (43) entschuldigte sich gestern vor Gericht bei den Geschädigten und behauptet, er sei nur ein gewöhnlicher Kurierfahrer gewesen und hätte nicht gewusst, dass seine Auftraggeber Kriminelle sind. „Ich wurde doch selbst manipuliert“, behauptet der Angeklagte. bitte glauben Sie mir: Ich wollte nicht, dass es Ihnen schlecht geht. Ich wollte nur arbeiten.“ Inge P. nahm ihm das ab, sagte mit traurigem Blick aber auch: „Dass ich diese Betrugsmasche am Telefon nicht durchschaut habe, macht mich wahnsinnig. Bis heute hält mich das nachts oft noch wach.“

Die Täter sitzen meist im Ausland und rufen von dort nach Deutschland an – hunderte Male am Tag. Nur wenige Betrugsversuche gelingen tatsächlich. Doch wenn, dann ist die Beute oft sehr hoch, wie die Statistik zeigt.

Umso wichtiger sei es, dass möglichst viele Bürger diese Betrugsmasche kennen, um sich schützen zu können, sagt Eisenreich. „Es lassen sich viele Straftaten verhindern, wenn man sich als Betroffener Hilfe holt“ so der Minister. „Unsere Botschaft: Lassen Sie sich nicht unter Druck setzen. Beziehen Sie Familie oder Freunde ein. Und wichtig ist: Zeigen Sie die Täter an. Es hilft, Polizei oder Staatsanwaltschaft frühzeitig zu informieren. So lassen sich Taten besser aufklären und weitere Taten verhindern.“

Bislang 22 Täter haben Münchner Ermittler heuer festgenommen, im vergangenen Jahr waren es 31. Den Tätern droht eine Haftstrafe von sechs Monaten bis zu zehn Jahren. Meistens werden aber nur die kleineren Komplizen zur Verantwortung gezogen – so wie Geldabholer Mariusz P.

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