„Künstliche Intelligenz wird vieles verändern“

von Redaktion

INTERVIEW LMU-Forscher Thomas Seidl sieht die Technologie vor dem Durchbruch

München – An Künstlicher Intelligenz (KI) wird seit vielen Jahrzehnten geforscht, jetzt kommt die Technik immer mehr in der praktischen Welt an. Zwar gebe es noch Probleme, aber die seien immer schneller lösbar, sagt Thomas Seidl, Informatikprofessor an der Ludwig-Maximilians-Universität und Direktor des „Munich Center for Machine Learning“ (MCML). Die Forschungseinrichtung ist eines von sechs deutschen Kompetenzzentren für KI-Forschung. Sie soll helfen, Deutschland als Top-Standort für KI-Technologien zu etablieren. Rund 50 Professoren und 120 Doktoranden forschen am MCML. Finanziert wird das Zentrum vom Bund und dem Land Bayern.

Ein Gespräch über den unaufhaltsamen Siegeszug von KI – und die notwendige gesellschaftliche Debatte über die Grenzen der Technik.

Herr Professor Seidl, wieso reden jetzt alle wieder über Künstliche Intelligenz?

Die Forschung zum Thema läuft schon lange, seit den 1950er-Jahren. Es gab einige KI-Winter, weil die Technik Versprechungen nicht gehalten hat – doch jetzt ist endlich die Rechentechnik so weit, dass man relativ problemlos neuronale Netze trainieren kann.

Hat das zum Erfolg von ChatGPT geführt, dem Chatroboter des US-Unternehmens Open AI?

Ja. Mit ChatGPT kann jeder herumspielen, nur wer es intensiver nutzt, muss zahlen. Das hat die Verbreitung der Technik beflügelt.

Wie funktionieren aktuelle KI-Systeme?

Einfach gesagt: Textroboter wie ChatGPT benötigen viele Trainingsdaten, also von Menschen produzierte Texte und Bilder. Damit werden die Datenbanken des Systems gefüttert. Auf eine Anfrage prüfen die Algorithmen, welches Wort aus ihrem riesigen Daten-Fundus am wahrscheinlichsten als Antwort passt, auch welcher Satz, welcher Absatz, und so weiter. Nach und nach setzt sich auf diese Weise eine anscheinend intelligente Antwort zusammen. Man erkennt schnell: Solche Antworten der KI können nur so gut sein wie die Trainingsdaten. Alle Fehler und Vorurteile, die in den Ursprungsdaten stecken, werden ungefiltert wiedergegeben.

Die Veränderungen durch KI werden oft mit der Revolution durch das Internet oder durch Personal Computer verglichen. Stimmt das?

Ja, das Thema hat uns mit Wucht getroffen. Es wird viele Lebensbereiche durchdringen, insbesondere die Arbeitswelt. Haben Computer und Roboter früher vor allem mechanische Tätigkeiten ersetzt, kann KI nun gestalterische und kreative Arbeiter unterstützen – oder ablösen. Es ist eine gesellschaftliche Aufgabe zu schauen, dass der Mensch bei diesen Veränderungen nicht zu kurz kommt.

Viele fürchten nun um ihren Job. Zu Recht?

Das beschäftigt mich auch. Wenn alles automatisiert wird, drohen im schlimmsten Fall soziale Unruhen. In unserer Gesellschaft definieren sich schließlich viele über eine erfüllende Tätigkeit. Allerdings dürfen wir nicht vergessen: Überall, wo in der Vergangenheit neue Technologien zum Vorschein gekommen sind, fielen zwar zunächst Aufgaben weg, es entstanden stets aber auch neue Arbeitsbereiche. Computer haben uns nicht arbeitslos gemacht, wie viele noch in den 1950er-Jahren dachten. Im Gegenteil: Wir sind so beschäftigt und auch so produktiv wie nie zuvor. An den Münchner Universitäten registrieren wir jedenfalls eine hohe Zahl von Ausgründungen junger KI-Unternehmen, die sich mit dem Thema beschäftigen.

Wie so oft in der Tech-Branche dominieren das Thema US-Tech-Konzerne. Sind europäische Unternehmen chancenlos?

Wir sind in Europa gut im Entwickeln von Grundlagen, aber schlecht darin, unsere Ideen zu Geld zu machen und daraus Arbeitsplätze zu schaffen. Doch das Rennen im KI-Feld beginnt erst. Die US-Konzerne haben einen Nachteil, den wir zu unserem Vorteil ummünzen können: Sie beschränken sich auf große Märkte. Mit einer KI-Speziallösung für Apotheker werden sich Microsoft oder Meta kaum beschäftigen. Solche branchenbezogenen Lösungen sind unsere Stärke.

Wenn heimische Unternehmen Stärke zeigen, werden sie schnell von US-Konzernen gekauft.

Aus Sicht der Gründer ist eine solche Entwicklung natürlich ein Erfolg. Aus gesellschaftlicher Sicht müssen wir überlegen, was wir tun können, um junge Technologien in Europa zu halten.

Sollte der Staat mehr Anreize schaffen?

Forschungsförderung ist immer willkommen. Das nationale KI-Kompetenzzentrum in München (MCML) erhält jährlich einen achtstelligen Betrag und nimmt so eine weltweit führende Position in der Technik ein. Aber Geld ist nicht alles. Rechtssicherheit ist wichtig. Zu viele Regeln können Innovation behindern. Gründer brauchen vielfache Unterstützung: von der Infrastruktur etwa in Form von schnellem Internet bis hin zu Beratungsstellen.

Wohin geht die Entwicklung in Sachen Künstliche Intelligenz? Wann droht der nächste KI-Winter?

Das lässt sich schlecht vorhersagen. Das Thema ist nun in der Öffentlichkeit schon so weit gekommen. Zwar gibt es noch Herausforderungen: Beispielsweise nehmen es die KI-Chat-Roboter oft nicht so genau mit den Fakten. Aber es ist in meinen Augen nur eine Frage der Zeit, bis die Inhalte passen – das wird in Monaten gelöst sein, nicht in Jahren. Künstliche Intelligenz wird in nächster Zeit in vielen Bereichen unterstützend eingesetzt: Sei es, um Versicherungsbetrug aufzudecken oder Röntgenbilder zu analysieren. Die Grenzen der jungen Technik sind noch nicht in Sicht. Die Diskussion darüber, was KI kann und darf und was nicht, müssen wir jetzt führen.

Interview: Julia Rugen

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