München – Es gibt manchmal lange Tage in der Politik, das hier dürfte der allerlängste sein: Der Wahltag in Bayern hat 1002 Stunden. Weil er zwar am 8. Oktober, 18 Uhr, endet. Aber schon am 28. August mit dem frühestmöglichen Start der Briefwahl begann. Wann also wählen die Bayern wirklich? Und was bedeutet das für die Planung der Parteien?
Wenn heuer jeder Zweite seinen Wahlzettel mit der Post schickt – Rekord –, krempelt das die Kampagnen kräftig um. Es gibt nie mehr den klassischen Aufbau aus Vorwahlkampf, Wahlkampf, heißer Phase, Schlusskundgebung und dann Wahltag. „Der Wahlkampf ist deutlich nach vorn verlagert. Es ist jeden Tag Wahltag“, sagte Andreas Hamm, Landesgeschäftsführer der Grünen in Baden-Württemberg, der „FAZ“. „Einen klaren Spannungsaufbau hin zum eigentlichen Wahlsonntag gibt es nicht. Jeder Tag zählt gleich viel.“ Die Kundgebung im September kann so viele Stimmen bringen wie der allerletzte Auftritt der Kampagne. Frühzeitiges Plakatieren und dauerhafte Präsenz sind nötig. Das ist teuer und kräftezehrend.
Vor allem deshalb hat die Politik in Bayern den Wahltag, der früher oft im September lag, eher spät angesetzt. Die Briefwahlphase soll möglichst nicht zu sehr in die Sommerferien fallen.
Wann genau Briefwähler wählen, lässt sich angesichts des Postrücklaufs erahnen. Der Berliner Politik-Professor Thorsten Faas spricht von zwei großen Wellen. Ein großer Schwung erledigt das sofort, wenn die Wahlbenachrichtigung eingetroffen ist. Die zweite Welle komme gegen Ende, wenn Menschen feststellen, am Wahlsonntag lieber woanders zu sein.
Viel schwerer zu fassen ist, was das für die politische Strategie bedeutet. Wenn seit Ende August jeden Tag tausende Wähler ihre Kreuzchen machen, genügt es für eine Partei nicht mehr, auf ein Stimmungshoch am 8. Oktober zu setzen. Ein „Swing“ in letzter Minute hilft weniger, wenn die Hälfte der Stimmen schon längst vergeben ist. Als krasses Beispiel gilt die Landtagswahl 2011 in Baden-Württemberg: Damals geschah zwei Wochen vor dem Wahltag die Fukushima-Katastrophe, politisch schlug die Stimmung zugunsten der Grünen um, Winfried Kretschmann wurde (knapp) Ministerpräsident. Hätte es damals viele frühe Briefwähler gegeben, wäre er nicht ins Amt gekommen.
Ob es bei Briefwählern bestimmte Neigungen gibt? Politik-Experte Faas beantwortet das vorsichtig. Den früher vermuteten Grundsatz, Briefwähler seien Stammwähler, die Wechsler eilen zur Urne, unterschreibt er nicht mehr. Faas sagt aber, Briefwählern sei erkennbar wichtig, dass ihre Stimme zählt. Und: „Grüne und Union sind tendenziell stärker bei Briefwählern.“ Bei AfD-Wählern gebe es große Vorbehalte. Das belegt auch die repräsentative Wahlstatistik für die Bundestagswahl 2021. Die CSU holte an der Urne 3,5 Prozent, per Brief 7,0 (jeweils bundesweit). Auch die Freien Wähler waren per Brief viel stärker.
Unverändertes Ritual: Bayerns Politiker selbst gehen am Sonntagmorgen ins Wahllokal, um sich dabei filmen zu lassen – die allerletzte Chance, an diesem Tag Unentschlossene zu erreichen. Wobei auch diese Praxis bröckelt: Der hessische Ministerpräsident Boris Rhein (CDU) hat am 28. August seine Stimme per Briefwahl abgegeben.
CHRISTIAN DEUTSCHLÄNDER