Ein Kompromiss befriedet das brennende Land

von Redaktion

HINTERGRUND Was das Asyl-Paket von 1993 bewirkt hat: Damals wurden die „sicheren Herkunftsstaaten“ erfunden

Bonn – Das Land bebt, ist in Aufruhr, und die kleine Stadt erlebt einen Ausnahmezustand. Bonn ist belagert von zehntausenden Demonstranten. Sie blockieren die Straßen und den Zugang zum Bundestag. Flaschen, Steine, Farbbeutel und Feuerwerkskörper fliegen über die Heussallee. Die Abgeordneten werden unter Polizeischutz und auf abenteuerlichen Wegen ins Parlament geschleust: 130 Politiker werden per Hubschrauber eingeflogen, 250 setzen auf Booten über den Rhein. „Der Bundestag ist umstellt, abgeriegelt“, schreibt der „Bonner Generalanzeiger“ fassungslos über jenen 26. Mai 1993.

Es ist der Tag der bisher größten und wichtigsten Asyldebatte der Republik. In einer zehnstündigen Sitzung berät und beschließt der Bundestag das Paket, das heute als der große „Asylkompromiss“ bekannt ist und plötzlich wieder oft zitiert wird. Für die Gegendemonstranten mit all ihren Transparenten („Gegen die rassistische Festung Europa“, „Bleiberecht für alle“) ist es eine Niederlage. Für jene, die vor Überforderung und Radikalisierung warnen, ist die Änderung des Grundgesetzes ein durchschlagender Erfolg. In der Folge sinken die Asylzahlen in Deutschland – fast 440 000 Flüchtlinge im Jahr 1992, hoffnungslos überfüllte Unterkünfte – drastisch.

Grundlage des Kompromisses der schwarz-gelben Regierung mit der oppositionellen SPD, damals unter Björn Engholm, ist eine Einigung aus dem Dezember 1992. Ein Paket, das vor allem vielen Sozialdemokraten extrem schwerfällt, bis hin zum Parteiaustritt von Günter Grass, der das Asylrecht „ruiniert“ sieht. Das Paket findet, so zynisch es klingt, wohl nur eine Mehrheit, weil die Stimmung im Land so aufgeheizt, teils verhetzt, ist. Deutschland erlebt fremdenfeindliche Anschläge wie 1991 in Hoyerswerda oder Hünxe. Dazu kommen die Landtagswahlen 1992 in Baden-Württemberg und Schleswig-Holstein, in denen die Republikaner beziehungsweise die DVU auf Platz 3 landen. In dieser Phase manifestiert sich der Plan, das Grundgesetz zu ändern.

Der Kern: Artikel 16 („Politisch Verfolgte genießen Asylrecht“) wird als 16a neu gefasst. Armut, Bürgerkrieg oder Naturkatastrophen sollen als Asylgrund ausgeschlossen sein. Wer aus einem Land der EU oder aus einem sicheren Drittstaat einreist, kann sich nicht auf das Grundrecht auf Asyl berufen. Wer aus einem als sicher eingestuften Herkunftsstaat kommt, muss genau vortragen, warum er angeblich verfolgt sei – die Grundlage für die heutige Debatte über „sichere“ Staaten wie Georgien, Moldau, vielleicht auch Maghreb und Indien; andere Staaten kopierten das System später. An Flughäfen soll es Eilverfahren geben. Und: Die Leistungen für Asylbewerber werden außerhalb der Sozialhilfe geregelt. Es gibt Gemeinschaftsunterkünfte und in Teilen Sachleistungen.

Der Kompromiss und parallel das Ende des Jugoslawienkriegs lassen die Zahlen in den nächsten Jahren deutlich sinken. Zum Teil geht das zulasten von Transitstaaten wie der Türkei. Die politische Lage beruhigt sich. Edmund Stoiber, als Bayerns CSU-Innenminister einer der wichtigsten Unterhändler der Union, sieht darin den wesentlichen Punkt für das Absinken der Republikaner, die bei seiner Bayern-Wahl 1994 nur 3,9 Prozent schafften. „Durch konsequente Abgrenzung und inhaltliche Arbeit – vor allem der Asylkompromiss von 1992 – konnten diese Rechtsparteien wieder in die Bedeutungslosigkeit verbannt werden“, sagte Stoiber später in einem Interview.

CHRISTIAN DEUTSCHLÄNDER

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