München – Als ihm endlich ein Arzt seine Frage beantwortet, zerbricht Erec Brehmers Welt. Seine Freundin Angi hat den Autounfall nicht überlebt. Brehmer saß neben ihr, als sie auf die Gegenfahrbahn geriet und der Wagen frontal mit einem anderen Auto zusammenprallte. Er selbst ist schwer verletzt – aber kein körperlicher Schmerz kommt an das ran, was er gerade fühlt. Er bricht im Krankenbett zusammen.
Es sind so viele Emotionen, die er in den kommenden Monaten durchmacht. Schmerz, als er die gemeinsame Wohnung betritt, in der alles noch so ist, wie sie es vor ihrem Skiausflug zurückgelassen hatten. Leere, als er mehr und mehr realisiert, dass er Angi nie wieder im Arm halten wird. Dankbarkeit dafür, dass er in ihren letzten Lebensmomenten an ihrer Seite war. Ein kurzer Augenblick des Glücks, als er merkt, dass ihr Kopfkissen noch nach ihr riecht – und es sich für einen Moment wieder so anfühlt, als würde sie gleich ins Zimmer kommen. „Wenn so etwas passiert, ist man danach nicht mehr der, der man war“, sagt der 36-Jährige heute.
Er erinnert sich noch gut daran, wie weit entfernt er sich damals vom Rest der Welt fühlte, erzählt er. Freunde wissen nicht, wie sie mit ihm umgehen sollen. Gespräche, in denen irgendwann der Satz „Das wird schon wieder“ fällt, hält er nicht aus. Irgendwann spricht er gar nicht mehr über seine Trauer – weil er merkt, dass er alle Menschen in seinem Umfeld damit überfordert. Und gleichzeitig merkt er, dass er Angis Tod ohne Gespräche nicht verarbeiten kann.
Erec Brehmer schreibt Traumatherapeuten an – doch er wird überall abgewiesen. Dann erfährt er zufällig von der Nicolaidis YoungWings Stiftung in München. Dort gibt es eine Trauergruppe für Menschen um die 30. Schon beim ersten Treffen spricht Brehmer eine Stunde lang über Angi – und über die Leere, die ihr Tod in seinem Leben hinterlassen hat. Einige andere in der Gruppe weinen mit ihm, manche nicken stumm. Als sie ihm berichten, wie sie sich langsam zurück in den Alltag kämpfen, hat er das erste Mal Hoffnung, dass sich die Situation verändern wird. Dass er lernen wird, mit der Trauer zu leben.
Auch Lisa Auffenberg ging es vor zehn Jahren so, als ihr Freund an Krebs starb. Heute leitet die 35-Jährige eine Trauergruppe der Stiftung für Menschen in ihrem Alter. Dieses ehrenamtliche Engagement neben ihrem Beruf als Journalistin ist für sie eine Herzenssache – weil sie weiß, dass die Gruppentreffen, die gemeinsamen Ausflüge oder die Einzelgespräche für viele Trauernde ein Anker sind. Selbst dann, wenn sie keine Worte für ihren Schmerz finden. Auffenberg erinnert sich an einen Mann Ende 40, der zu jedem Treffen kam, aber kaum etwas sagte. „Er hörte nur zu.“ Nach Monaten schenkte er allen Teilnehmern der Gruppe Engelkerzen und sagte: „Ihr habt mein Leben gerettet.“
Die Nicolaidis YoungWings Stiftung ist eine Anlaufstelle speziell für junge Trauernde – und damit einzigartig. Sie hilft Kindern und Jugendlichen nach dem Tod eines Elternteils und jungen Menschen bis zu 49 Jahren, die ihren Partner verloren haben. Gegründet wurde sie 1999 von Martina Münch-Nicolaidis, die damals selbst ihren Mann verloren hatte und merkte, dass es für junge Menschen in dieser Situation kaum Anlaufstellen gibt. „In den ersten Tagen ist das Kriseninterventionsteam da – dann aber niemand mehr“, sagt Karin Neumeier. Seit Martina Münch-Nicolaidis vergangenes Jahr gestorben ist, leitet sie die Stiftung gemeinsam mit Lana Reb. „Wer jung den Partner verliert, ist oft in einer prekären Situation erklärt sie. „Plötzlich ist die gemeinsame Zukunft ausgelöscht.“ Oft sind kleine Kinder da, die auf einmal allein versorgt werden müssen. Und viele junge Eltern geraten nach so einem schweren Schicksalsschlag auch finanziell in eine Notlage. Die Trauerbegleiter stehen ihnen zur Seite und beraten sie professionell. Mittlerweile gehören zur Stiftung 43 festangestellte und 86 ehrenamtliche Mitarbeiter. „Wir haben inzwischen einen Jahresetat von rund zwei Millionen Euro“, berichtet Neumeier. Nur mit Spenden sei das nicht mehr zu stemmen. Die Stiftung ist auf Fördergelder angewiesen.
Doch das ist schwierig – nicht nur, weil es um Millionen geht. Sondern vor allem, weil es von staatlicher Seite keine Möglichkeit für eine Regelförderung gibt, wie Sozialministerin Ulrike Scharf (CSU) auf Anfrage von Karin Neumeier erklärte. Das Beratungsangebot der Stiftung falle in den Bereich der Kinder- und Jugendhilfe, die Finanzierungspflicht dafür liege bei den Landkreisen und kreisfreien Städten. Scharf hatte zwar immer wieder betont, wie wertvoll die Arbeit der Stiftung sei. Auch für einzelne Projekte gab es Fördergelder vom Ministerium. Für den Bau des Sternenhauses, das gerade als Anlaufstelle in München entsteht, gibt es vom Staat eine halbe Million. Eine Regelförderung sei aber unzulässig.
Auch mit dem Münchner OB Dieter Reiter ist Karin Neumeier im Gespräch. „Ich halte die Arbeit der Stiftung für außerdordentlich wichtig“, betont er. Das Engagement verdiene allerhöchsten Respekt. Reiter will dem Münchner Stadtrat noch in diesem jahr vorschlagen, das Projekt mit einem höheren sechsstelligen Betrag zu unterstützen, damit die Stiftung auch künftig jungen Menschen in deren Trauer beistehen könne. Er habe bereits Signale von den größeren Fraktionen, dass der Stadtrat das unterstützen werde. Über den Freistaat ärgert sich Reiter. „Er hat ursprünglich Signale der Unterstützung gesendet, sieht sich nun aber leider aus vermeintlich bürokratischen Erwägungen nicht in der Lage, das auch umzusetzen. Es wäre schade, wenn es hier kein Umdenken geben sollte.“
Auch Karin Neumeier kann die Absage vom Sozialministerium nicht nachvollziehen. „Wir können nicht verstehen, dass diese Arbeit, die dazu beiträgt, dass Menschen nach einem Schicksalsschlag wieder in der Gesellschaft ihre Rolle einnehmen können, nicht förderfähig sein soll“, betont sie. Für die Trauerbegleitung brauche die Stiftung ausgebildetes Personal. Und das koste viel Geld, betont Neumeier. Die Personalkosten würden den Großteil des Jahresetats der Stiftung ausmachen. Ohne die Regelförderung könne das Hilfsangebot nicht in vollem Umfang aufrechterhalten werden.
Erec Brehmer besucht die Trauergruppe der Stiftung inzwischen nicht mehr. Er hat es geschafft, Angis Tod zu verarbeiten. Und er hat mittlerweile eine neue Freundin. Auch das ist ein Thema bei den Gruppentreffen, sagt er. Durch die Gespräche hat er gelernt, dass man mehr als einen Menschen lieben kann. Aus seiner Trauer hat der 36-Jährige einen Film gemacht. Er heißt „Wer wir gewesen sein werden“. Er hat dafür Fotos und Videos von Angi zusammengeschnitten – und dokumentiert, wie er mit seiner Trauer umgegangen ist. „Ich habe gelernt, dass ich die Liebe zu Angi nicht loslassen muss“, sagt er heute. „Ich musste einen neuen Platz dafür schaffen.“