Nobelpreis für mRNA: Corona war nur der Anfang

von Redaktion

VON WALTER WILLEMS

Stockholm/Berlin – Im ersten Moment klingt es wie ein Scherz. Als am frühen Montagmorgen an der US-Ostküste das Telefon bei Drew Weissman klingelt, kann der Amerikaner kaum glauben, was er da hört. Am anderen Ende der Leitung meldet sich das Karolinska Institut in Stockholm, eine weltbekannte Institution. Jedes Jahr um diese Zeit vergibt sie die Nobelpreise, als ersten stets den für Medizin. Diesmal trifft es Weissman, gemeinsam mit seiner ungarischen Kollegin Katalin Karikó, die den Schweden erst mal die Nummer Weissmans geben muss und ihm zur Vorwarnung eine SMS schickt. „Wir sind beide davon ausgegangen, dass uns da jemand einen Streich gespielt hat“, berichtet Weissman Stunden später.

Da ist die Nachricht, dass die zwei Wissenschaftler für ihre bahnbrechende Arbeit auf dem Gebiet der mRNA-Forschung ausgezeichnet werden, bereits weltweit verbreitet. Es kommt nicht oft vor, dass ein so spezielles und anspruchsvolles Thema so viele Menschen persönlich anspricht, doch im Fall von Karikó (68) und Weissman (64) ist das nachvollziehbar. Milliarden Menschen haben von der Arbeit der beiden in der Corona-Zeit profitiert.

Schlagartig hat die Pandemie vor drei Jahren eine bis dahin kaum bekannte Technologie ins Bewusstsein der Öffentlichkeit gerückt. In der Rekordzeit von weit unter einem Jahr wurden mRNA-Impfstoffe gegen Covid-19 entwickelt, getestet, zugelassen und eingesetzt. Möglich wurde das beispiellose Tempo durch die beharrliche Vorarbeit zweier Forscher der Universität von Pennsylvania – der in Ungarn geborenen Biochemikerin Karikó und des US-Immunologen Weissman. Als die beiden bereits in der Boten-Substanz mRNA Potenzial sahen, setzte noch kaum jemand auf diesen Ansatz. Forschungsgelder waren rar.

Eine bessere Wahl für den Medizin-Nobelpreis könne es nicht geben, schrieb Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach (SPD) auf X. Geehrt würden „die beiden Menschen, die jahrelang gegen den Trend mRNA-Forschung gemacht haben. Ohne sie wären Millionen Menschen mehr an Covid gestorben.“

Die mRNA übermittelt in der Zelle die Baupläne für Proteine von der Erbsubstanz DNA an die Eiweißfabriken. Weil das Molekül extrem schnell zerfällt und zudem vom Immunsystem angegriffen wird, wenn es von außen in den Organismus gelangt, wurde das medizinische Potenzial des Ansatzes lange verkannt. Karikó und Weissman zeigten, dass man mRNA dem Zugriff des Immunsystems entziehen kann, wenn man einen bestimmten Baustein austauscht.

Auf dieser Grundlage erforschten Pionierfirmen wie Biontech aus Mainz, Curevac aus Tübingen und Moderna aus Cambridge (USA) das medizinische Potenzial – zunächst gegen Krebs. Mit der Corona-Pandemie konzentrierten sich die Firmen auf Covid-19, mit ihrem Abebben rückten wieder andere Einsatzmöglichkeiten in den Fokus, vor allem Infektionskrankheiten und Krebs.

Seit 2013 ist Karikó für Biontech tätig, mittlerweile nur noch beratend. Ihre Arbeit sei „wegbereitend“ gewesen, teilte das Unternehmen am Dienstag mit. „Wir schätzen Kati und Drew für ihre Leidenschaft, ihre Beharrlichkeit und ihr Engagement.“ Die Technologie habe „ein Riesenpotenzial“, sagte Biontech-Mitgründer Ugur Sahin bereits 2021. „mRNA-Verfahren haben die Tür zu einer neuen Klasse von Arzneimitteln geöffnet, die bisher ungelöste Herausforderungen in der Medizin adressieren können.“

Biontech prüft derzeit den Grippe-Impfstoff BNT161 in einer für die Zulassung erforderlichen Phase-3-Studie. Moderna listet auf seiner Website für diese Phase diverse Impfstoffe auf, auch gegen das RS-Virus und das Cytomegalie-Virus (CMV). Gegen Tuberkulose, Malaria und HIV wird der Ansatz ebenfalls geprüft.

Große Hoffnungen ruhen auf der Krebstherapie. Mit dem Verfahren könne man für Patienten schnell individuelle Impfstoffe herstellen, sagt Niels Halama vom Deutschen Krebsforschungszentrum. So kann die Charakterisierung eines individuellen Tumors dessen zentrale Veränderungen ermitteln. Die mRNA kann dann die Baupläne dieser Antigene in die Zellen tragen, so dass das Immunsystem gezielt dagegen vorgeht.

Derzeit prüfen dutzende Studien den Nutzen von mRNA gegen Tumore – von Melanomen über Lungen-, Prostata- und Brustkrebs bis zur Bauchspeicheldrüse. Gerade für diese schwer behandelbaren Pankreas-Karzinome habe eine kleine US-Studie vielversprechende Daten ergeben, sagt Halama: „Diese haben deutlich gezeigt, dass die Impfung zusammen mit anderen Maßnahmen wie Chemotherapie und Operation einen Nutzen bringen kann.“

Für die Studie hatten Mediziner bei 16 Patienten den Tumor entfernt und das Gewebe zu Biontech geschickt, wo für jeden ein individueller mRNA-Impfstoff entwickelt wurde. Die Hälfte der Patienten erlitt während des 18-monatigen Beobachtungszeitraums keinen Rückfall – trotz extrem schlechter Prognose. „Wir wissen noch nicht, ob der Krebs nie wieder oder mit großer Verzögerung zurückkehrt“, sagt Halama. „Die Daten zeigen aber, dass der Ansatz seine Berechtigung hat.“

Und es gibt weitere Anwendungsmöglichkeiten. Sahin berichtete 2021 im Fachblatt „Science“, dass mRNA-Wirkstoffe bei Mäusen möglicherweise bei Autoimmun-Erkrankungen wie Multipler Sklerose helfen könnten. Ähnliche Ergebnisse lieferte ein Team um Weissman für eine Herzfibrose, ein verbreitetes Kennzeichen von Herzschwäche.

Curevac-Gründer Ingmar Hoerr sagt, die Vorarbeit von Karikó und Weissman habe die Grundlage für eine Vielzahl von Therapien geliefert. „Wir stehen ganz am Anfang“, so der Biologe. „Wir werden erleben, dass Medikamente gegen andere Krankheiten entstehen – auch im Falle einer neuen Epidemie.“

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