München – Klaus Albrecht hatte die Hoffnung schon fast aufgegeben, als es vor einigen Wochen an der Tür des Kirchensittenbacher Rathauses klingelte. „Ich habe gehört, Sie suchen eine Ärztin“, habe die Frau gesagt, die wenig später vor ihm stand. Für den Bürgermeister der fränkischen 2200-Einwohner-Gemeinde war das „wie ein Sechser im Lotto“.
Seit Anfang des Jahres steht die von der Gemeinde vermietete Praxis leer. Der langjährige Arzt im Dorf war in den Ruhestand gewechselt. Zuvor hatte er mithilfe des gesamten Ortes lange einen Nachfolger gesucht. Der Bäcker, der Pfarrer, der Metzger, der Bürgermeister – sie alle traten in Youtube-Videos auf und verbreiteten die Botschaft „Kirchensittenbach braucht einen Doktor“. Zeitungen und auch das Fernsehen berichteten über die kreative Suche. Alles vergebens. 60- bis 70-Stunden-Wochen, der bürokratische Aufwand, den es bedeute, eine Praxis wieder zum Laufen zu bringen – das habe wohl einige grundsätzlich interessierte Kandidaten abgeschreckt, vermutet Albrecht.
Dass die Suche nun doch noch erfolgreich war, „hat sich im Ort schon rumgesprochen“, sagt der Bürgermeister. Und auch wenn noch einige Details zu klären sind, bevor es losgehen kann und die neue Ärztin zunächst langsam starten möchte, ist Albrecht guter Dinge. „Für uns ist wichtig, dass die ärztliche Versorgung gewährleistet wird.“
Es ist fraglos eine besondere Geschichte, die sich in Kirchensittenbach zugetragen hat – doch handelt es sich nicht um einen Einzelfall. 486 Hausarztpraxen sind in Bayern derzeit unbesetzt. In Hebertshausen im Landkreis Dachau suchen sie bisher vergeblich einen Allgemeinarzt, der in das geplante Ärztehaus der Gemeinde einziehen will. In Grafing im Landkreis Ebersberg gibt es keinen Nachfolger für den alteingesessenen Kinderarzt, der demnächst aufhört. Gerade auf dem Land wird die Lage teils immer schwieriger.
„Die demografische Entwicklung macht auch vor den Ärzten nicht halt“, sagt Christian Pfeiffer, Vorsitzender der Kassenärztlichen Vereinigung Bayerns (KVB) im Interview mit unserer Zeitung. „Viele Kolleginnen und Kollegen scheiden demnächst aus. Und das sind oft Leute, die man in gewisser Weise als Workaholics bezeichnen könnte“, erklärt er. Der jüngeren Generation erscheine heute hingegen eine Anstellung oft attraktiver als die eigene Praxis. „Lange Arbeitstage, rund um die Uhr erreichbar. Das ist ein Lebensstil, den viele junge Kollegen so nicht mehr wollen.“
Dazu komme, dass erstmals seit Kurzem die Mehrheit der niedergelassenen Ärzte weiblich sei. „Das ist an sich ja nichts Schlechtes“, sagt Pfeiffer. „Aber weil Frauen aus familiären Gründen öfter in Teilzeit arbeiten, trägt auch das dazu bei, dass wir gerade auf dem Land für jeden, der aufhört, im Prinzip zwei junge Kolleginnen und Kollegen bräuchten, um sie zu ersetzen.“ Zudem herrsche der Trend, dass es gerade junge Menschen eher in die Städte zieht.
Die Folgen bekommen sie derzeit auch im Landkreis Freising zu spüren – und zwar in gleich zwei Gemeinden. In Kirchdorf suchen sie seit dem Winter einen Nachfolger für den in Ruhestand gegangenen Hausarzt im Ort. Und im etwas größeren Langenbach mit seinen rund 4200 Einwohnern haben sie sich in ihrer Verzweiflung sogar schon professionelle Hilfe geholt. Eine Kreativagentur hilft bei der Arztsuche – und hat sogar eine eigene Marke aufgebaut. Gesucht wird: „Der Bachdoktor“.
Auf einer eigenen Internetseite werden Praxis, Dorf und sogar künftige Patienten vorgestellt und bewerben sich sozusagen um einen Arzt. Überzeugen sollen die freundlichen Mitbürger („äußerst herzlich, familiär, sozial“), das gastronomische Angebot („einen Italiener, einen Hotel-Gasthof, eine bayerische Gaststätte“) oder die Flughafennähe („Heben Sie ab und lassen Sie Ihren Praxisalltag für eine Weile hinter sich!“). Der künftige Hausarzt müsste nur noch auf „Ja, ich will“ klicken, seine Daten eingeben und auf den Rückruf warten. Und es gab auch durchaus schon konkrete Interessensbekundungen. Gefunden hat die Gemeinde Langenbach bisher aber noch niemanden – auch wenn die Chancen nicht schlecht stehen, dass es nun doch noch ein Happy End gibt. Eine Ärztin und ein Arzt haben sich gemeldet, die sich vorstellen können, gemeinsam eine Praxis in Langenbach zu eröffnen. „Ich gebe die Hoffnung nicht auf und bin zuversichtlich, dass es klappt“, sagt Bürgermeisterin Susanne Hoyer.
Doch in trockenen Tüchern ist die Sache auch diesmal noch nicht. Denn weil nach dem Ausscheiden des bisherigen Hausarztes im Dorf zum April die sogenannte Nachbesetzungsfrist bereits abgelaufen ist, muss für eine neue Praxis nun offiziell auch eine neue Zulassung beantragt werden. Das heißt: Der Zulassungsausschuss der Kassenärztlichen Vereinigung muss erst einmal seine Zustimmung geben (siehe auch Kasten) – und dieses Gremium tagt nur alle paar Wochen. Um es den möglichen neuen Ärzten etwas leichter zu machen, möchte die Gemeinde zudem versuchen „das alte Praxisteam wieder zu reaktivieren“, berichtet Hoyer. Auch bei der Suche nach neuen Praxisräumen und gegebenenfalls auch Wohnraum will man helfen.
Die Bürgermeisterin hat nicht bereut, dass ihre Gemeinde sich die Hilfe einer professionellen Agentur geholt hat. In den Sozialen Medien und durch Fernsehberichte über die ungewöhnliche Kampagne habe Langenbachs Problem viel Aufmerksamkeit erhalten. Dass sich die Arztsuche aber überhaupt so schwierig gestaltet, dafür sieht Hoyer „Fehler im System“ verantwortlich. „Es gibt schon noch die Mediziner, die aufs Land wollen – aber diesen Ärzten bieten sich eben auch wahnsinnig viele Möglichkeiten.“ Das Prinzip von Angebot und Nachfrage greift also auch bei der Arztsuche. „Der Markt ist deshalb sehr dünn“, sagt Hoyer. Ein grundlegendes Problem liege auch darin, dass ausscheidende Ärzte oft recht kurzfristig mitteilen würden, dass sie ihre Praxis schließen. „Denn sonst laufen ihnen ja schon vorher die Patienten weg.“ Zudem sei es „sehr teuer“, eine eigene Praxis zu eröffnen oder zu übernehmen.
Tatsächlich zeigt eine bundesweite Umfrage der Deutsche Apotheker- und Ärztebank, dass allein der Preis für die Übernahme einer Hausarztpraxis durchaus im sechsstelligen Bereich liegen kann. Wie teuer es genau wird, hängt wie bei Immobilien aber stark von der konkreten Lage ab. „Wenn man auch noch ein Eigenheim will, müssen sich viele schon entscheiden“, sagt Bürgermeisterin Susanne Hoyer.