München – Es sind beklemmende Bilder: Eine junge Frau liegt auf einer Art Krankensofa, ihr Kopf ruht auf einem Kissen mit Herzchenmuster, ihr bandagierter rechter Arm auf einer Lehne. Dann tauchen zwei Männerarme mit Gummihandschuhen im Bild auf. Der Mann trägt einen Arztkittel und rollt den Verband ab. Die junge Frau blickt weg, reißt dann die Augen wieder weit auf. In ihrem Blick steht nackte Angst. Sie ist schwer verletzt. Eine frische Narbe zieht sich über den Oberarm, ein Fixateur hält den offenbar gebrochenen Knochen zusammen. Dann wird der Arm neu verbunden. Die Botschaft der Hamas, die das Video veröffentlicht hat: Seht her, wir kümmern uns gut um die Geiseln. Die unmissverständliche Drohung dahinter: Wir können aber auch anders.
Bei der jungen Frau handelt es sich um Mia Shem. Sie lebt in Israel, hat aber auch einen französischen Pass, gilt somit als ausländische Geisel. In dem Video sagt sie auf Hebräisch, dass sie aus dem Zentrum Israels stamme und im Gazastreifen festgehalten werde. Mit ruhiger Stimme bittet sie um Freilassung. Und sie sagt, dass sie gut behandelt werde. Im Untertitel heißt es, die Frau sei am ersten Tag des Angriffs der Hamas auf Israel am 7. Oktober entführt worden.
Geiseln sind der größte Trumpf der Hamas
Angesichts des drohenden Einmarschs Israels in den Gazastreifen hat die Hamas den Propagandakrieg eröffnet. Rund 200 Geiseln hat sie in ihrer Gewalt, die Hamas selbst spricht von bis zu 250. Die Geiseln sind das größte Pfund, das die Radikalislamisten derzeit in der Hand halten. Je mehr Bilder der Geiseln kursieren, je mehr Angehörige um das Leben ihrer Liebsten flehen, desto größer wird der Druck auf Israel, nicht zu hart zurückzuschlagen, kalkuliert die Hamas. Tote Geiseln sind ein Problem für Israels Ministerpräsident Benjamin Netanjahu, innenpolitisch, aber auch außenpolitisch. Denn viele Geiseln haben einen ausländischen Pass, so wie Mia Shem. Die Hamas holt sie deswegen gezielt aus der Anonymität.
Die Mutter der 21-Jährigen rief gestern in einer emotionale Pressekonferenz zur Freilassung ihrer Tochter auf. „Ich flehe die ganze Welt an, dass ich mein Kind zurückbekomme.“ Ähnliche Appelle gab es schon von anderen Angehörigen, deren Kinder, Eltern oder Geschwister von der Hamas in den Gazastreifen verschleppt wurden.
Unter den Geiseln befinden sich auch Israelis mit deutschem Pass. Das Auswärtige Amt spricht bisher von acht Vermisstenfällen, hinter denen teils mehr als eine Person steckt. Eine genaue Anzahl nennt das Auswärtige Amt weiterhin nicht. Einige Verschleppte haben Angehörige in Deutschland, die nun Druck auf die Bundesregierung machen. Zum Beispiel die Familie der 22-jährigen Shani Louk, die auf einem Musikfestival in der Negev-Wüste als Geisel genommen wurde. Ein Teil der Familie lebt in Baden-Württemberg.
Außenministerin Annalena Baerbock hat Angehörige getroffen und versprochen, alles zu tun, was möglich ist. „Wir arbeiten mit allen Akteuren, die dazu beitragen können, die zivilen Geiseln zu befreien“, sagte sie gestern am Rande der vierten Moldau-Unterstützerkonferenz in Chisinau. Die Gespräche seien „wahnsinnig komplex und wahnsinnig schwierig“. Die Befreiung der deutschen Geiseln sei „eines unserer zentralen Themen“, sagte Baerbock. „Da arbeiten wir Tag und Nacht dran.“
Papst will offenbar Angehörige treffen
Frankreichs Präsident Emmanuel Macron reagierte gestern auf das Auftauchen des Videos von Mia Shem. „Er verurteilt die Schmach, die die Geiselnahme unschuldiger Menschen und ihre abscheuliche Inszenierung darstellt“, teilte der Élyséepalast in Paris mit. Der Präsident fordere die sofortige und bedingungslose Freilassung von Mia Shem.
Ob und unter welchen Bedingungen die Hamas dazu bereit ist, ist die noch völlig offene Frage. Auch die Türkei, die sich im Nahost-Konflikt immer wieder für die Palästinenser eingesetzt hat, versucht zu vermitteln. Außenminister Hakan Fidan habe mit dem im Exil lebenden Hamas-Chef Ismail Hanijeh in einem Telefonat „die neuesten Entwicklungen in Palästina und die Möglichkeit der Freilassung von Zivilisten“ besprochen, hatte das türkische Außenministerium am Montag erklärt.
Auch Papst Franziskus möchte offenbar die Angehörigen von Hamas-Geiseln treffen. Das berichtet die katholische Zeitung „Avvenire“ unter Bezug auf Aussagen eines portugiesischen Journalisten, der sich derzeit in Israel aufhält: Henrique Cymerman sagte demnach, er habe am Samstag mit dem Papst telefoniert. Laut Cymerman will Franziskus der Bitte um eine Audienz für Familienangehörige von Hamas-Geiseln entsprechen. Der Termin solle bereits an diesem, spätestens am darauf folgenden Wochenende stattfinden.
Der Vatikan hat bislang keine solche Audienz angekündigt. Mehrfach hatte der Papst die Freilassung der Entführten gefordert. Am Montag hatte sich der Lateinische Patriarch von Jerusalem, Kardinal Pierbattista Pizzaballa, zum Austausch gegen Geiseln der Hamas angeboten.
WOLFGANG HAUSKRECHT