„Wir haben den Infektionsschutz über alles gestellt“

von Redaktion

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Bonn – Die Corona-Pandemie ist zwar vorbei, doch das Virus ist nicht verschwunden. Die Zahl der Infektionen steigt wieder. Der Virologe Hendrik Streeck (46) ist Direktor des Instituts für Virologie am Universitätsklinikum Bonn und war ab Dezember 2021 Mitglied des Corona-Expertenrats der Bundesregierung. In dieser Funktion äußerte er sich in der Pandemie immer wieder skeptisch zu den harten Infektionsschutzmaßnahmen. Er kritisierte die Impfpflicht, forderte mehr Mut, Infektionen bei jungen Menschen zuzulassen. Ein Gespräch über den nahenden Winter und über die Aufarbeitung der Corona-Politik in Deutschland.

Herr Professor Streeck: Werden Sie im Winter wieder Maske tragen?

Nein. Es kann eine Situation geben, in der ich zum Beispiel krank bin, aber trotzdem reisen muss. Dann würde ich aus Rücksicht auf meine Mitmenschen eine Maske anziehen. Das hätte ich aber auch schon vor der Pandemie gemacht.

US-Präsident Joe Biden hatte schon vor einem Jahr die Pandemie für beendet erklärt. Bundesgesundheitsminister Karl Lauterbach brauchte dafür bis zum Frühjahr dieses Jahres. Waren oder sind die Deutschen zu ängstlich im Umgang mit dem Virus?

Was ich in der Corona-Pandemie zum Teil sehr vermisst habe, war ein pragmatischer Umgang mit dem Virus. Wir haben bereits im Frühjahr 2020 gewusst, dass dieses Virus heimisch wird und nicht ausrottbar ist. Das bedeutet, dass wir ein Leben mit diesem Virus gestalten müssen. Es gab aber eine verklärte Sehnsucht, Herr über das Virus werden zu können – wie beispielsweise bei den Zero-Covid-Anhängern. Das ist leider aber ein Wunschgedanke gewesen.

Die Deutschen und auch andere Länder konnten sich sehr schwer damit abfinden, dass wir das Virus nur bedingt kontrollieren können. Lassen Sie sich im Herbst mit dem angepassten Booster impfen?

Nein. Es gibt überhaupt keinen Grund, dass sich jüngere Menschen noch mal impfen lassen. Das sagt auch die Ständige Impfkommission. Der angepasste Impfstoff ist für die sinnvoll, die ein hohes Risiko für einen schweren Verlauf haben. Dazu zähle ich nicht. Aber auch in dieser Gruppe sollte das Impfen eine individuelle Entscheidung sein, die man mit dem Hausarzt bespricht und abwägt.

Es gibt sogar Hausärzte, die mit Verweis auf Risiken und Nebenwirkungen nicht mehr gegen Corona impfen. Nachvollziehbar oder verantwortungslos?

Das ist schwierig zu beantworten. Es gibt Menschen, die haben doch sehr extreme Reaktionen und sehr heftige und teils auch langfristige Nebenwirkungen von der Corona-Impfung erlebt. Da kann ich sehr gut nachvollziehen, dass Hausärzte auch bei Menschen über 60 Jahren zum Beispiel aus Sorge vor einer Autoimmunreaktion von einer weiteren Impfung abraten. Ein generelles Nein kann ich jedoch nicht nachvollziehen. Es gibt Risikogruppen bei denen ein Booster durchaus sehr sinnvoll ist.

War es im Nachhinein betrachtet richtig und notwendig, Kinder und Jugendliche zu impfen? Sie sprechen von individueller Entscheidung. Stattdessen gab es vielerorts die 2G-Regel – also Zutritt zu bestimmten Einrichtungen wie Kinos nur für Geimpfte oder Genesene.

Ich habe mich auch früher gegen die 2G-Regel und die Impfpflicht ausgesprochen. Die Daten für Kinder- und Jugendlichen-Impfungen zeigen nicht eindeutig einen Vorteil der Impfung gerade in Bezug auf die neueren Varianten. Es wäre besser gewesen, keinen Impfdruck oder sozialen Druck aufzubauen. Ich kenne aber auch Eltern, die sich Sorgen gemacht haben und deshalb eine Impfung für ihr Kind haben wollten. Der beste Weg ist, eine Impfung mit dem Kinder- oder Hausarzt zu besprechen. Man muss aber ganz deutlich sagen, dass Covid eine Erkrankung ist, die ungleich schwerer ältere Menschen und Menschen mit Vorerkrankungen betrifft. Bei den Maßnahmen hätte man sich daher auch mehr auf diese vulnerablen Gruppen konzentrieren müssen. Das ist leider so nicht passiert.

Sie haben kürzlich den Umgang mit Ungeimpften kritisiert und von Stigmatisierung gesprochen.

Ja. Weil bei dieser Erkrankung Impfen eine individuelle und keine gesellschaftliche Entscheidung ist. Bei Masern ergibt eine Impfpflicht Sinn, nicht aber bei Corona. Wir haben zum Teil Menschen vom öffentlichen Leben ausgeschlossen. Da war kein Besuch auf dem Weihnachtsmarkt mehr möglich oder sie durften Geschäfte nicht mehr betreten. Auch im Zug musste man mit dem Ticket den Impfpass vorzeigen. Es gab eine erschreckende Ausgrenzung gegenüber Ungeimpften, die Rede war von einer Tyrannei der Ungeimpften. Da wünsche ich mir eine Aufarbeitung. Wir müssen darüber reden, wie wir in Zukunft mit solchen Fragestellungen umgehen.

Christian Drosten gilt bis heute als der Chefvirologe, der die Politik von Maßnahmen überzeugt hat. Sie dagegen wurden als Lockerer kritisiert. Sehen Sie sich aus heutiger Sicht angesichts der Kollateralschäden mancher Maßnahmen bestätigt?

Die Geschichte hat gezeigt, dass wir mit einigen Fragestellungen hätten anders umgehen sollen. Als ich 2020 vorgeschlagen habe, im Sommer den Mut zu haben, mehr Infektionen unter jüngeren Menschen zuzulassen, wurde dies kopfschüttelnd abgetan. Heute weiß man, dass das ein guter Weg gewesen wäre, weil es meist asymptomatische und mildere Infektionen gewesen wären und wir dadurch die Immunität in den Sommermonaten in der Bevölkerung erhöht hätten. Dieses Beispiel zeigt, dass es im Umgang mit der Pandemie nicht hilfreich war, andere Meinungen abzutun oder auszugrenzen. Wir haben stattdessen sehr viel mit Angst und Angstbildern gearbeitet. Der Fokus lag auf Kindern, Jugendlichen und jungen Menschen. Dabei wussten wir, dass das Virus vor allem für vulnerable Risikogruppen gefährlich ist.

Christian Drosten hat kürzlich in einem Interview mit der „Zeit“ auf eine Studie verwiesen und gesagt, dass Schulschließungen dazu geführt hätten, eindeutig die Zahl der Verstorbenen zu senken.

Das ist nicht ganz richtig. Die zitierte Metastudie der britischen Royal Society sagt lediglich, dass Schulschließungen in der Schule und Gemeinschaft die Coronainfektionen reduziert haben, was ja nicht verwunderlich ist. Keine Schule – keine Infektionen in der Schule. Weiterhin sagt die Metastudie, dass die Datenlage zu diesem Themenkomplex leider dünn ist und zudem viele Studien aus dem asiatischen Bereich kommen. Das wirft die Frage nach der Vergleichbarkeit auf. Demgegenüber stehen aber eindeutigere Studien, die die psychischen, sozialen und gesundheitlichen Folgeschäden bei Kindern beschreiben. Durch das Fehlen einer Aufarbeitung zieht sich jetzt jeder seine Studie heran und kriegt damit das bestätigt, was er lesen will. Das ist aber leider keine Aufarbeitung, das ist Schönfärberei.

Umso bemerkenswerter, dass Christian Drosten das so eindeutig behauptet.

Wir sind alle Menschen. Jeder ist fehlbar.

Sie waren damals bei den Sitzungen des Expertenrats der Bundesregierung dabei. Die Regierung hat die Protokolle nicht komplett veröffentlicht, sondern nur geschwärzt.

Ich hätte kein Problem damit gehabt, dass die Protokolle komplett veröffentlicht werden. In meinen Augen hätten wir von Anfang an unsere Sitzungen offen und transparent gestalten müssen.

Wurden Maßnahme trotz fehlender Evidenz beschlossen?

Über Maßnahmen haben das Bundesgesundheitsministerium oder das Robert-Koch-Institut entschieden. Der Expertenrat hat seine Stellungnahme vorgelegt. Das ist alles, was ich dazu sagen kann.

Sind Sie zufrieden mit der Aufarbeitung der Corona-Politik?

Nein. Es gibt leider keine Aufarbeitung. Es gibt zwar hier und dort kleinere Konferenzen zu Lehren aus der Pandemie. Wenn man sich aber nur mit Gleichgesinnten austauscht, kommt man zu dem Ergebnis, was man gerne hören will. Es würde uns aber gut zu Gesicht stehen, wenn sich beispielsweise Christian Drosten mit den Virologen Alexander Kekulé und Jonas Schmidt-Chanasit öffentlich austauscht. Dann gäbe es wirkliche Aufarbeitung durch kontroversen Austausch. Leider gibt es keinen Lessons-Learned-Prozess, also keine systematische Aufarbeitung. Einen solchen Prozess könnte zum Beispiel auch das Bundesforschungsministerium anstoßen. Es mangelt an einer Fehlerkultur, in der man sich auch mal eingestehen kann, dass man falsch lag. Es geht nicht darum, jemanden an den Pranger zu stellen. Es geht darum, dass wir in Zukunft bessere Entscheidungen treffen.

Politiker haben sich dafür entschuldigt, dass Menschen in Seniorenheimen ohne Angehörige sterben mussten. Aber war das medizinisch gesehen damals nicht doch richtig?

Der größte Fehler in der Pandemie war, dass man zu wenig unterschiedliche Expertisen und Fachbereiche mit einbezogen hat. Hierzu gehören auch Soziologen, Psychologen und auch Palliativmediziner. Ein 90-jähriger Mensch möchte lieber noch mal vielleicht drei Wochen mit seinen Kindern oder Enkeln verbringen als zwei Jahre einsam zu sein und das Gefühl zu haben, eingesperrt zu sein. Viele Ältere haben in diesen Monaten extrem abgebaut, weil sie keine sozialen Kontakte mehr hatten. Das war wirklich grausam, was da zum Teil gemacht wurde.

Dennoch ist es passiert …

Wir haben den Infektionsschutz über alles gestellt. Wolfgang Schäuble wurde für einen Satz kritisiert, der aber den Nagel auf den Kopf getroffen hat: Wenn es überhaupt einen absoluten Wert in unserem Grundgesetz gibt, dann ist das die Würde des Menschen. Das ist aber nicht der Infektionsschutz.

Drosten hat gesagt, Covid sei für die meisten Menschen jetzt wie eine Erkältung oder eine Grippe. Gesundheitsminister Lauterbach dagegen wird nicht müde zu betonen, die Infektion sei eben keine Erkältung. Wer hat Recht?

Erkältung ist kein wissenschaftlicher, kein medizinischer Begriff. Das Coronavirus hat sich eingereiht in alle anderen grippalen Infekte, die wir im Herbst und Winter haben.

Aber Lauterbach warnt vor Long Covid.

Die Grippe kann auch mal heftiger ausfallen und zu Langzeitproblemen führen. Long Covid ist ein schwammiger Begriff, für den es keine Biomarker, keine Diagnostik gibt. Gerade jetzt mit Omikron und Impfung ist die Wahrscheinlichkeit, dass man solche Langzeitwirkungen hat, sehr gering.

Sind wir denn nun auf die nächste Pandemie besser vorbereitet?

Das ist eine komplizierte Frage. In einigen Bereichen haben wir durchaus dazugelernt. Beispiele sind Abwassermonitoring und Stichprobenstudien. Es wurde offenkundig, wie marode unser Gesundheitssystem ist. Ob hier die Politik aber gelernt hat und sich traut, strukturelle und radikale Reformen zu machen, bleibt abzuwarten. Letztendlich hat wahrscheinlich jeder einzelne für sich bereits Lehren aus der Pandemie selber gezogen, einen Konsens in der Politik, mit der Gesellschaft und in der Wissenschaft gibt es leider bisher noch nicht.

Interview: Alexander Schäfer

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