„Ärztinnen sind gegenüber Frauen oft die besseren Therapeuten“

von Redaktion

INTERVIEW Dr. Hildegard Seidl von der München Klinik über neue Erkenntnisse – und Männer, die ihren Körper behandeln wie ein Auto

München – Die städtische München Klinik hat eine eigene Fachstelle für geschlechterspezifische Medizin. Dr. Hildegard Seidl leitet die Stelle seit sechs Jahren.

Frau Dr. Seidl: Was genau ist Ihre Aufgabe?

Die München Klinik nimmt das Thema sehr ernst. Meine Aufgabe ist es, dass neue Erkenntnisse über die Unterschiede von Mann und Frau in der Medizin möglichst schnell ans Krankenbett kommen. Das dauert in vielen Kliniken oft viel zu lang.

Seit wann weiß man, dass Männer und Frauen medizinisch relevante Unterschiede aufweisen?

Schon seit den 1980er-Jahren. Wissenschaftlerinnen fanden heraus, dass Frauen bei Herzinfarkt eine deutlich schlechtere Prognose haben als Männer. Sie sterben häufiger. Frauen gehen oft zu spät in die Klinik. Sie haben andere Symptome als Männer, und Ärzte hatten eher den Mann als infarktgefährdet im Blick.

Welche Rolle spielt das Immunsystem?

Beim Herzinfarkt ist es nicht ausschlaggebend – aber bei Infektionskrankheiten. Bei Covid zum Beispiel sind Männer deutlich gefährdeter für einen schweren oder tödlichen Verlauf. Frauen haben dafür viel öfter Autoimmunerkrankungen, bei denen sich die Immunabwehr gegen den eigenen Körper richtet.

Und bei Osteoporose?

Da fallen die Männer häufiger hinten runter. Bei Frauen klingeln gerade nach den Wechseljahren beim Arzt schneller die Alarmglocken, und es wird eine Knochendichtemessung gemacht. Wenn Männer Schlüsselfrakturen haben, etwa am Handgelenk oder an der Wirbelsäule, sollte es auch klingeln. Es klingelt aber oft nicht.

Warum ist das so?

In der Medizin erfolgt die Auswertung von Studien noch immer meist allgemein und nicht differenziert nach Geschlechtern. Da muss sich noch einiges ändern.

Wie setzen Sie das in der München Klinik um?

Wir setzen viel auf Aus- und Weiterbildung und haben das Glück, dass wir Lehrkrankenhaus der großen Münchner Universitäten LMU und TU sind. Viele Studierende machen bei uns das praktische Jahr und werden geschlechterspezifisch ausgebildet. Das gilt auch für unsere Akademie für Pflegeberufe.

Und praxisnah?

Wir bieten zum Beispiel eine Jungen-Sprechstunde an, weil man sieht, dass Jungs nach dem Kinderarzt häufig eine Versorgungslücke haben. Mädchen werden meist direkt zur Frauenärztin übergeleitet. Jungs scheuen sich zum Beispiel, zum Urologen zu gehen. Das ist was für alte Männer! (lacht) Wir werten zudem unsere Daten geschlechterspezifisch aus und schaffen uns gerade ein elektronisches Verordnungssystem an. Das System prüft, ob bei Medikamenten Unterschiede bei Männer und Frauen beschrieben sind. Im Idealfall führt das zu einer optimierten Dosierung. Und wir haben gerade eine Fortbildungsreihe zusammen mit der Stadt ins Leben gerufen. Alle an der Notfallversorgung in München Beteiligten schulen wir zum kultur- und geschlechtersensiblen Umgang.

Dosierung ist auch geschlechterspezifisch?

Es ist leider immer noch so, dass in den Studien nicht nach geschlechterspezifischen Unterschieden geschaut wird. Aus Beobachtungsstudien weiß man heute aber, dass es Unterschiede bei Wirkung und auch Nebenwirkungen gibt. Beispiel Blutdrucksenker: Einen hohen Blutdruck spüren die meisten nicht. Aber wenn eine Patientin mehr Nebenwirkungen hat, setzt sie das Medikament vielleicht ab. Also ist es wichtig zu versuchen, Nebenwirkungen durch eine geschlechterspezifische Dosierung möglichst zu vermeiden. Wenn erst hoch dosiert und die Dosis dann reduziert wird, verliert die Patientin schnell das Vertrauen.

In den Beipackzetteln wird auch nicht zwischen Mann und Frau unterschieden.

Das Problem ist: In neuen Studien werden Männer und Frauen zwar anteilmäßig rekrutiert, also nach der Häufigkeit der Erkrankung in der Bevölkerung. Aber das nützt nichts, wenn ich die Daten nicht getrennt auswerte, denn dann kann ich die Unterschiede ja gar nicht sehen. Eine getrennte Auswertung ist nicht vorgeschrieben. Außerdem laufen Studien in Phasen ab. In Phase eins werden Verträglichkeit und Sicherheit überprüft. Und da finden sich oft nur junge Männer, die bereit sind, dieses Risiko einzugehen.

Und in Phase zwei?

Dort wird die Dosierung geprüft. Auch dort haben wir zu wenig Frauen – und wenn, werten wir immer noch nicht getrennt aus. Es bräuchte neue Vorgaben für Studien.

Braucht es für ältere Medikamente neue Studien?

Wir können das Rad nicht zurückdrehen. Aber man könnte über Beobachtungsstudien etwa bei Betablockern oder ACE- Hemmern, die zum Senken des Blutdrucks eingesetzt werden, die Dosierung nachjustieren. Aus den Beobachtungen ist inzwischen ganz klar, dass Frauen bei diesen Medikamenten nur die Hälfte der Dosis brauchen, die in den Leitlinien steht. Das Problem: Beobachtungsstudien gelten als statistisch minderwertig und schaffen es nicht in die Leitlinien.

Gibt die München Klinik Dosierungen vor?

Nein. Es gibt die Therapiefreiheit des behandelnden Arztes. Jeder Arzt handelt eigenverantwortlich. Aber die Chefärzte wirken natürlich nach unten ins Team durch.

Gibt es auch bei Depressionen Unterschiede in der Symptomatik?

Männer sind manchmal aggressiv, weisen alles von sich, haben ein starkes Bedürfnis nach Autonomie. Frauen ziehen sich sozial zurück, sind niedergeschlagen. Diese Unterschiede sind oft nicht bekannt.

Welche Rolle spielt das Thema Kommunikation?

Wissenschaftlich erforscht ist, dass Kommunikation in der Medizin mehr in den Fokus rücken muss. Das Kommunikationsverhalten von Ärztinnen und Ärzten ist unterschiedlich. Studien zeigen, dass Ärztinnen gegenüber Frauen oft die besseren Therapeuten sind. Bei der Behandlung von Männern findet sich kein Unterschied. Man vermutet, dass Ärztinnen Frauen besser abholen. Das verringert auch postoperative Probleme. Frauen sind auch die kritischeren Patienten, wollen mehr Informationen.

Wir Männer lassen alles mit uns machen?

(lacht) Männer werden etwa an der Wirbelsäule viel öfter operiert als Frauen. Männer gehen mit ihrem Körper häufig um wie bei einer Autoreparatur: Kaputt – bitte richten.

Interview: Wolfgang Hauskrecht

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