Berlin – Ist der „Männerschnupfen“ doch keine Mär? Der Ausdruck, mit dem man sich über Wehleidigkeit des „starken Geschlechts“ bei einer Erkältung lustig macht, hat offenbar einen wissenschaftlichen Hintergrund. „Männer haben ein schwächeres Immunsystem als Frauen“, erläutert Gabriele Kaczmarczyk, Gastprofessorin an der Berliner Charité und Vorstandsmitglied der Deutschen Gesellschaft für geschlechtsspezifische Medizin. Deshalb können sich Männer mit einem Schnupfen richtig schwach fühlen, während Frauen einfach weiterarbeiten.
„Frauen und Männer sind anders krank. Eine geschlechtsneutrale Wirklichkeit gibt es nicht“, betont Kaczmarczyk. Als Vertreterin der geschlechtsspezifischen oder geschlechtersensiblen Medizin, auch Gendermedizin genannt, setzt sie sich dafür ein, dass derartige Unterschiede in allen Bereichen der Heilkunde anerkannt und berücksichtigt werden.
Ein plötzlicher Schmerz in der Brust, Schweißausbrüche und Todesangst – bei Männern sind die Symptome eines Herzinfarkts meist eindeutig. Bei Frauen äußert sich dieser hingegen oft vermeintlich harmlos, unspezifisch mit Hals- und Nackenschmerzen, Übelkeit und Atemnot. Daher dauert es beim sogenannten Eva-Infarkt im Schnitt eine Stunde länger, bis er diagnostiziert wird und die Patientin ins Krankenhaus kommt. Obwohl deutlich mehr Männer auf kardiologischen Intensivstationen behandelt werden, versterben mehr Herzpatientinnen.
„Der Herzinfarkt ist das bekannteste, aber bei Weitem nicht das einzige Beispiel dafür, dass wir geschlechtsbezogen denken müssen“, mahnt Kaczmarczyk. Corona habe dies erneut bewiesen: „Frauen sind oft deutlich stärker an dem Virus erkrankt, aufgrund ihres ausgefeilten Immunsystems aber seltener daran gestorben“, sagt die Medizinerin. Auch das „Broken-Heart-Syndrom“ spreche für eine differenzierte Sicht: Die Herzmuskelerkrankung tritt bei starkem emotionalem Stress auf, und zwar zu mehr als 90 Prozent bei Frauen.
Trotz dieser Erkenntnisse orientiert sich die Medizin in Prävention, Diagnostik und Therapie immer noch weitgehend am männlichen Körper. Da eine unerkannte Schwangerschaft vorliegen könnte, wurden Frauen über Jahrzehnte von Studien ausgeschlossen und wie eine Art kleinerer, leichterer Mann behandelt. Und das, obwohl der weibliche Körper nicht nur einen geringeren Muskel- und geringeren Wasseranteil aufweist, sondern auch jahrzehntelang einem Monatszyklus unterliegt, der, so Kaczmarczyk, einen wahren „Hormonsturm“ bedingt.
Das heißt konkret: Die Botenstoffe verteilen sich über das Blut im ganzen Körper und können an bestimmten Organen andocken. „Das kann beispielsweise bedeuten, dass eine Tablette am Anfang des Zyklus anders wirkt als während der Blutung oder in der Menopause“, erläutert die Medizinerin. Dies gelte es bei der Dosierung und bei möglichen Neben- und Wechselwirkungen zu beachten. Beipackzettel enthielten jedoch meist keine entsprechenden Informationen.
Was die Neuzulassung von Medikamenten angeht, so müssen weibliche Probanden seit einigen Jahren anteilig berücksichtigt werden. Ältere auf dem Markt befindliche Mittel allerdings seien, so die Professorin, ausschließlich an Männern oder männlichen Ratten geprüft. „Wenn bei erforderlichen Tierversuchen nicht auch weibliche Ratten herangezogen werden, bleibt die Übertragbarkeit der Ergebnisse auf Frauen fraglich. Die männlichen Ratten sind dann umsonst gestorben“, sagt Kaczmarczyk.
Das Umdenken zu einer geschlechterspezifischen Medizin erfolgt langsam. An den 36 deutschen Universitätskliniken, die Forschung, Lehre und Krankenversorgung verbinden, existieren nur eineinhalb Lehrstühle für Gendermedizin. Vorreiter ist die Berliner Charite, an der 2007 das bisher einzige Institut für Geschlechterforschung gegründet wurde. „In der Ausbildung kommt die geschlechtsspezifische Sichtweise noch viel zu wenig vor“, beklagt Kaczmarczyk. Besonders bei männlichen Kollegen halte sich die männerzentrierte Denkweise hartnäckig.
Dabei komme die Gendermedizin auch Männern zugute, denn die sind ebenfalls von Vorurteilen betroffen, die zu Fehldiagnosen führen können. So werden bei Männern Osteoporose, Brustkrebs oder Depressionen oft zu spät erkannt, weil diese Erkrankungen als klassische Frauenleiden gelten. Auch spöttische Kommentare über den „Männerschnupfen“ könnten bei einer geschlechtergerechten Sicht Vergangenheit sein.