100 Jahre Radio: Wie ein Gerät unser Leben veränderte

von Redaktion

VON CHRISTOPH ARENS UND DIEMUT ROETHER

Berlin – Zwar hatten Berliner Radiopioniere bereits im Dezember 1920 ein allererstes weihnachtliches Konzert in den Äther geschickt. Doch als erstes offizielles Programm ging „Die Funkstunde“ am 29. Oktober 1923 auf Sendung. „Achtung, Achtung, hier ist die Sendestelle Berlin im Vox-Haus auf Welle 400 Meter“ – mit dieser Ansage aus einem Dachzimmer, dessen Wände mit Krepppapier und Stoffdecken schalldicht abgehängt waren, vollzog sich die Geburt des neuen Mediums. Die erste Sendung, zu der die Hörer noch Kopfhörer brauchten: Live-Musik und eingespielte Schellackplatten mit Werken von Mozart, Beethoven, Schumann, Mendelssohn.

„Das Radio versammelt lauter Abwesende in einem imaginären Raum“, beschreibt Stephan Krass , früherer Literaturredakteur beim SWR, in seinem Buch „Radiozeiten“ die Besonderheit des Mediums. Radio verlange von seinen Zuhörerinnen und Zuhörern, sich auf diese Als-ob-Situation einzulassen.

Unterhaltung, Bildung, Information und Propaganda: Der Hörfunk in Deutschland war lange Jahre staatlich gelenkt. Denn nach der Revolution 1918 und den gewalttätigen Konflikten der frühen Weimarer Republik fürchteten die Regierenden, dass der Funke des Protests durch drahtlose Medien auf die Volksmassen überspringen könnte. Die Industrie wurde verpflichtet, nur Geräte herzustellen, mit denen lediglich ein enger Mittelwellenbereich empfangen und nicht selbst gesendet werden konnte. Die Nazis trieben die staatliche Kontrolle dann auf die Spitze. Die Bundesrepublik versuchte sich demgegenüber mit einer staatsfernen, aber öffentlich kontrollierten Rundfunkordnung.

Das Radio erlebte wilde Anfangsjahre. Bereits am 18. Juni 1925 wurde in Berlin ein Rundfunkorchester gegründet. Am 1. November 1925 gab es die erste Live-Reportage von einem Fußballspiel zwischen Preußen Münster und Arminia Bielefeld. 1930 registrierte man in Deutschland bereits mehr als drei Millionen Radiohörer.

Unter den Nazis wurde die gerade aufgeblühte Radiolandschaft gleichgeschaltet. Bei Reden von Hitler und seinem Propagandaminister Goebbels standen Hunderttausende vor den Lautsprechern stramm. Damit die Propaganda möglichst viele erreicht, stellte Goebbels 1933 auf der Berliner Funkausstellung ein Gerät vor, das Geschichte schreiben sollte: Der „Volksempfänger“ (VE 301) kostete 76 Reichsmark – nur ein Drittel des Preises, der damals für ein Radiogerät üblich war. Die Rundfunkfirmen wurden zu günstigen Serienfertigungen gezwungen. Mit Plakaten warben die Händler: „Ganz Deutschland hört den Führer mit dem Volksempfänger.“ Bis Ende des Jahres 1933 wurden fast 700 000 „VE 301“ verkauft. Mithilfe des Volksempfängers, auch „Goebbels Schnauze“ genannt, erreichten die Nazis 1941 fast zwei Drittel der deutschen Haushalte. Geboten wurde eine Mischung aus Wunschkonzert und Agitation für den totalen Krieg. Missliebige Verantwortliche der „Reichssender“ landeten im Konzentrationslager Oranienburg, alle Intendanten bis auf einen wurden durch Gefolgsleute ersetzt.

Gegen Ende des Zweiten Weltkriegs, im Mai 1945, übernahmen die Alliierten die Rundfunksender in Berlin, Hamburg und anderen Städten. Am 8. Mai verbot die amerikanische Militärregierung deutsche Rundfunksendungen. In den folgenden Jahren bauten die Alliierten einen staatsfernen öffentlich-rechtlichen Rundfunk auf. Ab 1950 wurden die ersten Radioprogramme über die neue Ultrakurzwelle (UKW) verbreitet. Der Volksempfänger, der diesen Standard nicht empfangen konnte, war damit Geschichte.

Das Radio aber blieb ein Erfolgsmedium. Charles Lindberghs erste Atlantiküberquerung 1927, die Brandkatastrophe des Zeppelins „Hindenburg“ 1937 oder das WM-Finale 1954 in Bern: Radioreportagen schafften es, Millionen vor den Empfängern zu versammeln. Nach 1945 wurde das Radio zum Bildungs- und Entnazifizierungsmedium. Schriftsteller wie Martin Walser, der als Studioregisseur beim Süddeutschen Rundfunk arbeitete, oder Alfred Andersch prägten das Programm.

Als ab den 1960er-Jahren handliche Transistorgeräte verkauft wurden, veränderten sich die Hörgewohnheiten. Es versammelte sich nicht mehr die gesamte Familie abends vor dem schweren Röhrengerät mit dem magischen Auge. Man konnte das Kofferradio nun einfach mit sich herumtragen, im Garten oder im Schwimmbad zum Rock-‘n‘-Roll hören.

Auch die Zahl der Sender stieg: Die in den 60er-Jahren aufkommenden Piratensender durchlöcherten als Erste das Verbot privat betriebener Radiostationen. In den 80ern ging dann offiziell der Privatfunk auf Sendung und formierte sich zu einem ernst zu nehmenden Konkurrenten der Öffentlich-Rechtlichen. Zunehmend entwickelte sich das Radio zum Nebenbei-Medium, das auch auf aktive Hörerbeteiligung setzt.

Mit dem Siegeszug der Smartphones braucht man kein separates Empfangsgerät mehr. Immer mehr Bundesbürger hören Radio über das Internet. Mancherorts wird schon das Ende des linearen Rundfunkprogramms beschworen. Podcasts ermöglichen ein immer individuelleres Hören. Der Weg zum Publikum läuft auch über spezielle Formate bei TikTok, Instagram und Snapchat. Und trotzdem kann Radio noch fesseln. Den Beweis liefert jede Woche die BR-Sendung „Heute im Stadion“. Die brillanten Live-Reportagen der Fußball-Bundesliga genießen ungebrochen Kultstatus.

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