Der „Herr im Frack“ leitete eine neue Ära ein

von Redaktion

Hobby-Bastler machten anfangs Siemens Konkurrenz – In München-Neuperlach sind die Geräte archiviert

München – Kaum war die erste Rundfunksendung 1923 ausgestrahlt, erkannte das damals in Berlin ansässige Unternehmen Siemens & Halske: Hier entsteht ein riesiger Markt. „Siemens ist direkt in die Entwicklung eigener Rundfunkgeräte eingestiegen“, sagt Siemens-Historiker Florian Kiuntke. In München-Neuperlach sind die alten Radios in einer Lagerhalle von Siemens archiviert, manche Geräte sind fast 100 Jahre alt. 1924, ein Jahr nach der ersten Rundfunksendung in Deutschland, brachte Siemens sein erstes Radio auf den Markt.

„Im Volksmund wurde das Gerät D-Zug genannt“, sagt Kiuntke. In der Premium-Variante bestand das Gerät aus drei Schuhkarton-großen Modulen, aneinandergereiht ähnelten sie Zugwaggons. Wer weniger Geld hatte, kaufte nur ein Modul, in der Sparvariante war der Hörgenuss aber nur mit Kopfhörer möglich. Erst die Mittelklasse-Version, bestehend aus zwei Modulen, verstärkte die Audio-Signale für einen trichterförmigen Lautsprecher. Wer Geld für drei Module hatte, war sogar in der Lage, die Radio-Frequenzen zu verstärken und konnte mit diesem Verstärker und einer Antenne das Rundfunkprogramm auch von schwächeren oder weiter entfernten Sendern empfangen.

Neben Siemens gab es eine ganze Reihe von Herstellern, die für den deutschen Markt produzierten, der bekannteste war Loewe aus Berlin. Historiker Kiuntke sagt, 1925 seien in Deutschland bereits 435 000 verkaufte Geräte auf dem Markt gewesen. Der Gesamtmarkt war allerdings viel größer: Zusätzlich zu den verkauften Geräten lauschte die Bevölkerung den Rundfunkprogrammen über selbst gebaute Radios, rund 500 000 dürften es gewesen sein, sagt Kiuntke. „Konkurrenten von Siemens waren auch die Hobby-Bastler.“ Trotzdem gelang es großen Herstellern wie Loewe und Siemens, sich am Markt zu etablieren. „Rundfunkempfänger blieben aber noch viele Jahre ein Luxusprodukt“, sagt der Historiker.

Das änderte sich in den 30er-Jahren. Die Nationalsozialisten hatten die Macht ergriffen. Für seine Propaganda benötigte Hitler ein günstiges Produkt. Siemens war eines von 28 Unternehmen, das den „Volksempfänger“ in Lizenz produzierte.

Parallel verkaufte Siemens Eigenentwicklungen: Mitte der 30er-Jahre brachte das Unternehmen ein schwarzes Radio-Schränkchen auf den Markt. Spitzname: „Herr im Frack.“ Der Vorbote einer Entwicklung, die in den Wirtschaftswunderjahren nach dem Zweiten Weltkrieg die Massen erreichen sollte: Koffergroße Radios fürs Wohnzimmer, je nach Ausführung als „Truhe“ oder „Schatulle“.

Der Siemens-Konzern, der seinen Sitz 1949 von Berlin nach München verlegte, war in den 50er-Jahren aber nicht der einzige Hersteller, der mit Radios am Aufschwung mitverdienen wollte. „Es gab nach dem Zweiten Weltkrieg große Konkurrenz“, betont Kiuntke. Und als Ende der 50er-Jahre die ersten Geräte aus Japan nach Europa kamen, verabschiedete sich Siemens von der Entwicklung eigener Radios. Zwar habe Siemens noch bis in die 90er-Jahre Radios anderer Hersteller in Lizenz produziert, sagt Kiuntke, das Geschäft sei aber eine Nische geblieben.

Die Siemens-Geräte aus der Anfangszeit des Radios zeigen aber etwas, was sich bis in die Gegenwart durchzieht: „Siemens hat schon immer technologische Trends frühzeitig erkannt und neue Märkte erschlossen“, meint Kiuntke. „Aber das Unternehmen scheute auch nicht davor zurück, sich von solchen Märkten wieder zurückzuziehen, wenn es sinnvoll erschien. Siemens wollte nie ein Nischenhersteller sein.“ Diese Strategie beobachte man bis heute. SEBASTIAN HÖLZLE

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